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118 Die katholische Aufklärung
Die katholischen Aufklärer hatten den Glauben zur Voraussetzung
der Erkenntnis gemacht, die Offenbarung potenzierte die natürliche
Vernunft zur Erkenntnis der Welt, auf diese Weise konnten sie die Be-
deutung der Kirche als Hort der Wissenschaft und als Bildungsinstanz
für alle Stände untermauern.151 Diese Apologie der Kirche als Banner-
trägerin der Wissenschaft begann aber in den 1770er und 1780er Jahren
zu zerbröckeln. Der Glaube, der die Vernunft auf ihre höchste Stufe
gehoben hatte, blieb auf der Strecke. Das Blatt hatte sich gewendet: Ab
den 1780er Jahren argumentierte man in Universitätsreden und Akten
der Studienhofkommission, dass es die verstaatlichte Religion vor der
überhandnehmenden, expansiven Vernunft zu schützen gelte. 1788 be-
schrieb der Ex-Jesuit Georg Ignaz Freiherr von Metzburg, Kartograf,
Newtonianer und Dekan der Philosophischen Fakultät der Universi-
tät Wien, den an seiner Lehranstalt auszubildenden Philosophen als
»Selbstdenker«, der aber »von der Beschränkung seines Verstandes […]
überzeugt (ist)« und »also denselben für kein hinlängliches Werkzeug
zur Richtschnur seines Glaubens« erkennt.152 Diese Erkenntnisabsti-
nenz, die Selbstbeschränkung der Vernunft in Glaubensdingen erklärt,
warum Kants Lösung für das Theodizeeproblem, die Definition des
Gottglaubens als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft, von
den katholischen Theologen um 1800 so begierig aufgegriffen wurde.153
Was also von der Forschungspraxis der katholischen Aufklärung
übrig blieb, waren die in den habsburgischen Wissenschaftsmilieus
verankerten Beobachtungs-, Experimental- und Protokollierungsme-
thoden sowie die Sakralisierung der Naturerkenntnis, des Studiums
des lückenlos und gleichmäßig wirksamen Weltgesetzes als vollkom-
151 Sigismund von Storchenau, Abhandlung über die Trägheit der Materie, in
so weit sie das Denkungsvermögen ausschließen soll, in: Beyträge zu ver-
schiedenen Wissenschaften von einigen Österreichischen Gelehrten, Wien
1775, 317-330; Wallnig, Rautenstrauch, 222.
152 Georg Ignaz Freiherr von Mezburg, Rede über die neue Einteilung des phi-
losophischen Studiums und den Nutzen desselben, Wien 1788, 19. Metzburg
hatte das vielfach wiederaufgelegte Lehrbuch des Dubliner Newtonianers
Richard Helsham aus dem Jahre 1739 in einer lateinischen Fassung her-
ausgebracht, Clarissimi Helshami, in Vniversitate Dvblinensi Philosophiae
Professoris Physica Experimentalis Newtoniana ex Editione […] Anglica
in Latinvm Translata, Vindobonae 1769. Vgl. Gerhard König, Georg Ignaz
Freiherr von Metzburg und die topographischen Bestrebungen der nieder-
österreichischen Stände, in: Heinz Hauffe (Hg.), Kulturerbe und Biblio-
theksmanagement. Festschrift für Walter Neuhauser zum 65.
Geburtstag am
22.
September 1998, Innsbruck 1998, 383-392.
153 Vgl. Kap. IV.1.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513