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120 Die katholische Aufklärung
dieser vermeintliche Defekt sollte aber für die konservative Aufklärung
und die restaurative Kosmologie des Vormärz unter dem Vorzeichen
des »Positiven« als größter Vorzug des Newtonianismus gelten.
Dass die Wurzeln dieses Weltbilds der liberalen Naturforscher in
der maria-theresianischen Wissenschaftspraxis der Jesuitenuniversitä-
ten und Kollegien lagen, war freilich im Vormärz nicht mehr selbst-
verständlich. Der Grund dafür liegt in einer Justierung und Zurich-
tung des Aufklärungserbes, die sich in den 1780er Jahren vollzogen
hatte. Seit der Ära Josephs II. begannen Frömmigkeit und aufgeklärte
Welterkenntnis, sei es in der Gestalt kritischer Gelehrsamkeit oder
experimenteller Naturforschung, geradezu als Gegensätze zu gelten.157
Die bornierten und banausischen Kleriker wurden zur Lieblings-
zielscheibe des Spottes in Broschüren und Pamphleten. Bald schien
es undenkbar, dass kirchliche Einrichtungen etwas zur Aufklärung
beigetragen haben konnten. Gegen diese klischeehafte Verengung soll-
ten sich die Veteranen der katholischen Aufklärung bis in die 1820er
vehement zur Wehr setzen, à la longue war ihr Widerstand gegen
die Etablierung dieses Geschichtsbildes aber vergebens.158 Mit dieser
Erbestrategie lösten die Josephiner einen Prozess oligopolistischer
Versäulung aus, sie erhoben den Alleinvertretungsanspruch einer Auf-
klärung, die sie glänzend im Reformwerk Josephs II. gipfeln sahen,
Zweifler und Abtrünnige brandmarkten sie als Gegenaufklärer.159 Die
157 Dazu die Glosse des alten Prämonstratensers aus Louka (Klosterbruck)
Norbert Korber, Österreichische National-Chronik: Kloster Bruck. Ge-
stiftet im Jahre 1190, in: Ad, hg. v. Anton Groß-Hoffinger 3 (1840), 308.
Korbers Kommentar zu Maulbertschs Fresko für den Bibliothekssaal von
Klosterbruck wird in Kapitel III.1 diskutiert.
158 Vgl. etwa Ignaz Cornova, Die Jesuiten als Gymnasiallehrer, Prag 1804,
71, 107; Marianne Klemun, Die naturgeschichtliche Forschung in Kärnten
zwischen Aufklärung und Vormärz, Dissertation Universität Wien 1992,
4 Bde., I, 146 (der Botaniker und Mineraloge Franz X. Wulfen über seinen
Jesuitenorden als Hort »geschicktester Naturkenner«, bis die »Zerstörung
Jerusalems«, d. h. die Aufhebung des Ordens, »darain kam«); Josef Táborský,
Reformní katolík Josef Dobrovský [Der Reformkatholik Josef Dobrovský],
Brno 2007, 120.
159 Gudrun Langer, Die Bewertung des Barock in der tschechischen und ös-
terreichischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, Mün-
chen 1984; Ludvíkovský, Dobrovského klasická humanita, 27-37; Franz X.
Gmeiner, Litterargeschichte des Ursprungs und Fortgangs der Philosophie,
2 Bde., Grätz 1788 /89, Bd. II, 96, dagegen Václav Matěj Kramerius, Kniha
Josefova. Sepsaná od jistého spatřujícího osmnácté století. Dílem již stalé
věci a dílem proroctví. Na způsob Biblí [Das Buch Josef. Geschrieben von
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513