Page - 145 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 145 -
Text of the Page - 145 -
145Restaurative
Geschichtspolitik und Sozialdiagnose
Das goldene Zeitalter der Barockfrömmigkeit wurde also aus der
Rückschau beschworen, als die Aufklärung bereits theologisch und
seelsorgerisch nicht mehr aus der Welt zu schaffen war; trotz all der
Rhetorik der Schadensabwicklung und Wiederherstellung führte hin-
ter die anthropozentrische Auffassung des Glaubens und die Moralisie-
rung des Religiösen kein Weg mehr zurück.60 Ferdinand von Eckstein,
der Orientalist und Paris-Korrespondent der Wiener Jahrbücher der
Literatur, des Zentralorgans der Metternich’schen Wissenschafts- und
Pressepolitik, beschrieb diesen Prozess im Jahr 1823: Aufklärung und
Liberalismus, so Eckstein, hätten »die Religion aus den Gesetzen vor-
geblich« in die Sphäre »der Gedanken und Gefühle hinein vertrieben,
also ganz außer Einwirkung auf die Welt gesetzt«, und diesen Säku-
larisierungsvorgang »mit einem lächerlichen Aufwande philantropi-
scher und toleranter Redensarten und Deklamationen« zu verschleiern
versucht.61
Die von Eckstein beobachtete Individualisierung und Verinner-
lichung des Glaubenserlebens lässt sich gut an egohistorischen Quel-
len ablesen, etwa an den Tagebüchern des jungen Jurastudenten und
Beamten Carl Kübeck.62 Kübeck wurde 1780 als Schneidersohn im
mährischen Iglau / Jihlava geboren, als der Ortspfarrer beim empfind-
samen Ministranten Kübeck einen Hang zur frommen »Überspannt-
heit« feststellte, kurierte er ihn durch praktische Glaubenslehren und
mathematische Übungen.63 Am Beginn seiner Laufbahn, als zwei-
undzwanzigjähriger Jungbeamter in Wien reflektierte Kübeck im Mai
1802 über die Evangelien. Die Lebensgeschichte Jesu deutete er dabei
als bildungsromanhafte Raffung und Verdichtung des Offenbarungs-
geschehens, das vor allem einen Identifikationsanreiz für das gläubige
Individuum bieten solle – lector in fabula:
che Fatum als Grundprinzip des modernen Dramas, in: WMZ (1817), Nr. 27,
216-219, Nr. 28, 224-227, Nr. 29, 232-235; A. Günter [Anton Günther,]
Berichtigungen der Ansichten über das christliche Fatum als Grundprinzip
des modernen Drama, in: WMZ (1817), Nr. 37, 305-310, Nr. 38, 313-316,
sowie mit der Rekonfiguration heilsgeschichtlicher Motive als Sujets privater
Weltbewältigung (vgl. etwa das Christusgrab als Gruft der Geliebten in No-
valis’ Hymnen an die Nacht).
60 Mikulec, Náboženský život a barokní zbožnost v českých zemích, 314-315.
61 Ferdinand von Eckstein, [Rez. v.] Prosper de Barante, Des Communes et de
l’Aristocratie, Paris, 1821, in: JbL 23 (1823), 194-219, 194.
62 Zu Kübeck ausführlicher Kap. V.1 und Kap. VII.2.
63 Carl von Kübeck, Tagebücher, 2 Bde. und ein Ergänzungsband, hg. v. Max
von Kübeck, Wien 1909, 1/I, 4.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513