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161Die
Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus
Selbst orientalisierung kam es zur Aneignung des Fremdbildes, das die
unrettbare Rückständigkeit der katholischen Welt postulierte: Das
kulturprotestantische Klischee wurde zum Autostereotyp der restau-
rativen Katholiken.
Der politisch formulierte Nachholbedarf, den die josephinischen Re-
formen mit sich brachten, war in den 1780er Jahren noch nuancenreich
verarbeitet worden. Katholische Aufklärer wiesen vor allem die von
Friedrich Nicolais Kreis und seiner Allgemeinen Deutschen Bibliothek
ausgehende, plump konfessionspolemische Desavouierung des katho-
lischen Südens zurück, sie kritisierten die Vereinnahmung der Aufklä-
rung als kulturprotestantisches Projekt.122 Nicolais anschwellendem
Bocksgesang stellten sie Argumente der Äquivalenz und Antizipation
gegenüber, das heißt: Sie suchten nachzuweisen, dass die Kultur der
katholischen Staaten jener der Musterländer Nord- und Westeuropas
gleichwertig war und eigenständig Toleranz, Prosperität und Gemein-
sinn hervorgebracht habe, ohne auf das Abkupfern protestantischer
Vorbilder angewiesen zu sein.123
In der Restaurationsära trat an die Stelle dieser Topoi der Eben-
bürtigkeit und Vergleichbarkeit, die sich aus der Verspätungsdiagnose
und dem politisch formulierten Aufholbedarf des josephinischen Jahr-
zehnts ergaben, allmählich die Selbstprovinzialisierung des Katholizis-
mus. Statt weiterhin mühselig um die Legitimität und Realisierbarkeit
der Aufklärung im katholischen Raum zu feilschen, formulierten die
restaurativen Geistlichen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhun-
derts langsam ein Gegenprogramm: Sie leiteten die Überlegenheit
des Katholizismus gerade aus seiner Andersartigkeit ab. Im Rahmen
dieser stolzen Selbstorientalisierung beschrieb man den katholischen
lectuelle und moralische Bildung der Kleriker, Wien 1817, X-XI. Vgl. wei-
ters Vincenz Darnaut, Entwurf einer Religionsgeschichte des alten Bundes,
oder Darstellung der göttlichen Voranstalten zur Einführung des Christent-
hums, WTZ (1813) 1, 49-79, 53. 1832 geißelt Frint das »neue Heidentum«
welches »sich unter dem Schild der Humanität und dem Losungswort der
Aufklärung und Freisinnigkeit ohne Blutvergießen immer weiter verbreitet,
das sogar eine scheinbare Gelehrsamkeit zu seinem Bundesgenossen ge-
macht hat«, Jakob Frint, Geistliche Übungen, Wien 1832, 76.
122 Vgl. Norbert Christian Wolf, Polemische Konstellationen. Berliner Auf-
klärung, Leipziger Aufklärung und der Beginn der Aufklärung in Wien
(1760-1770), in: Ursula Goldenbaum (Hg.), Berliner Aufklärung. Kultur-
wissenschaftliche Studien. Bd. II, Hannover 2003, 34-64.
123 Vgl. etwa Ignaz de Luca an Friedrich Nicolai, Innsbruck, 12. 12. 1781, Ignaz
de Luca an Friedrich Nicolai, Linz, 26. 5. 1777, StbB-PK NL Nicolai, Abt. I,
Band 46.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513