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183Die
liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat
rus – vor allem die Anhänger des Wiener Theologen und Philosophen
Anton Günther – trat hingegen für die freie Kirche in einem freien
Staat ein. Die Möglichkeiten dafür ergaben sich aus den geschilderten
Verhältnissen, die es überhaupt erst gestatteten, die Eigenständigkeit
der demokratisch organisierten Kirche im konstitutionell verfassten
Gemeinwesen zu behaupten. Nur eine aus dem Staatskirchenregiment
gelöste, ja in der Abgrenzung vom status quo als staatsfern konzipierte
Kirche würde es gelingen, sich zur Anwältin der Freiheit zu machen.
So konnte der Kampf des Klerus um die Ausübung der Religion ohne
staatliche Bevormundung zum Stellvertreterkrieg für die bürgerliche
Freiheit überhaupt werden.172
Der liberale Klerus des Jahres 1848 wird häufig als Spätprodukt, als
Endmoräne der katholischen Aufklärung verstanden,173 diese Auffas-
sung ist aber irreführend. Die Schüler Anton Günthers scharten sich
um den beliebten Prediger und ehemaligen Tierarzt Johann Emanuel
Veith sowie um den Nationalökonomen und Finanzbeamten Carl F.
Hock,174 beide stammten ursprünglich aus Prager jüdischen Familien.
Veith und Hock gründeten den Wiener Katholikenverein, der gegen
den »blinden Glauben« ebenso wie gegen den »blinden Gehorsam«
auftrat und das »mystische Dunkel« einer äußerlichen Religion ver-
warf, das sich mit einer »recht großen Zahl brennender Altarkerzen«
begnügte.175 Wer, so Veith, die
menschliche Freiheit binden und unterdrücken, wer einem andern
etwa auftragen will, so und nicht anders zu denken, wie er denkt,
der maßt sich Größeres an als die Allmacht und Liebe Gottes, der
kein geistiges Wesen zwingt oder die Freiheit desselben umgeht, er
172 [Anton Günther,] Die doppelte Souveränität im Menschen und in der
Menschheit, in: A 1 (1848), 54-57, 84-88, 132-134, 225-229, 233-237, 242-
246; Hermann Belovari, Christlicher Demokratismus und christlicher Sozia-
lismus im Jahre 1848 in Wien, Dissertation Universität Wien 1960, 53-55;
Gustav Otruba, Katholischer Klerus und Kirche im Spiegel der Flugschrif-
tenliteratur des Revolutionsjahres 1848, in: Victor Flieder, Elisabeth Kovács
(Hg.), Festschrift Franz Loidl, 3 Bde., Wien 1971, II, 265-313, hier 270.
173 Vgl. etwa Eduard Winter, Die Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos.
Humanistischer Patriotismus oder romantischer Nationalismus im vormärz-
lichen Österreich: Bernard Bolzano contra Friedrich Schlegel, Wien 1977.
174 Zu Hock vgl. Kap. V.6.
175 Otto Weiß, Katholiken in der Auseinandersetzung mit der kirchlichen
Autorität. Zur Situation des katholischen Wien und des Wiener Katholi-
kenvereins in den Jahren 1848 bis 1850, in: RJK 10 (1991), 23-54, 40.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513