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198 Wissenskulturen des Vormärz
Die leitenden Fragen in diesem Kapitel lauten: Wie ist der angeblich
archetypische österreichische Objektivismus und Antiidealismus zu
erklären, welche Binnenkonflikte zeichneten ihn aus? Wann und auf
welche Weise wurde dieser Traditionsbestand verfertigt, welche wis-
sensgeschichtlichen, kulturellen und politischen Funktionen erfüllte
dieses Fabrikat?
Die erfolgreiche liberale Geschichtspolitik der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts hat durch ihre Sicht auf die Zeit zwischen 1790 und
1848 ihr Scherflein zum Stereotyp einer änderungsresistenten »ös-
terreichischen philosophischen Tradition« beigetragen und so die
Annahme erhärtet, ein resolut antiidealistisches habsburgisches Denk-
muster habe als Entstehungsvoraussetzung des logischen Positivismus
im frühen 20. Jahrhunderts fungiert. Hier sind mehrere Aspekte in-
einander verschachtelt, im Folgenden greife ich einige Kernelemente
heraus, die herkömmlicherweise bemüht werden, um die intellektuelle
Prägung der habsburgischen Länder zu umreißen: die Abschottung
des geistigen Lebens im Vormärz, die Ablehnung von Kant und Hegel
und die durchgängige Existenz einer Leibniz-Wolff’schen Tradition,
die dann in den Wiener Kreis mündete. Diese Charakteristika fungie-
ren als Diskursstützen für die Konstruktion eines »österreichischen
Sonderwegs«.
Mit diesem Sonderweg verhält es sich ganz ähnlich wie mit der
für Deutschland behaupteten, gegenaufklärerischen »historischen
Weltanschauung«:5 Diese Sonderwegs-Erzählung wurde in Abgren-
zung vom westeuropäischen Naturrecht als Autochthonie- und Ab-
wehrnarrativ geprägt (»Ideen von 1914« versus »Ideen von 1789«6).
Nach dem Ende des II. Weltkrieges wurde diese Erzählung mit mora-
lischem Aplomb von den Verwestlichern in der BRD als Sachverhalts-
11, resümiert in kritischer Absicht die vermeintlichen Kernmerkmale der »ös-
terreichischen Philosophie«, kennzeichnet in Bezug auf die Kantkritik die
Differenzen zwischen Brentano und den Philosophen des Wiener Kreises und
nennt Milieus und Zentren der Kantrezeption nach dem ersten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts, 267-322.
5 Vgl. Isaiah Berlins These von der »cultural humiliation of the Germans«, Ra-
min Jahanbegloo, Conversations with Isaiah Berlin, London 1992, 98; Isaiah
Berlin, European Unity and Its Vicissitudes, in: ders., The Crooked Timber
of Humantiy. Chapters in the History of Ideas, London 1990, 175-206; ders.,
The Counter-Enlightenment, in: ders., Against the Current. Essays in the
History of Ideas, London 1980, 1-24.
6 Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Den-
ken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Welt-
krieg, Frankfurt a. M. 1976.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513