Page - 204 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 204 -
Text of the Page - 204 -
204 Wissenskulturen des Vormärz
beliebigen Bürgers – so lasen die Absolventen des Olmützer General-
seminars ihren Kant.27
Die Spur der vormärzlichen Kantrezeption führt zur Pädagogik
Vinzenz Eduard Mildes, der Buchbindersohn aus Brünn sollte später
als erster Bürgerlicher den Wiener Fürsterzbischofsstuhl innehaben.28
Ab 1806 bekleidete Milde in Wien die erste Professur für Erziehungs-
wissenschaft der Monarchie, zwischen 1811 und 1813 legte er das pä-
dagogische Lehrbuch vor, nach dem bis 1848 an den Universitäten
des Kaisertums vorgetragen wurde.29 Milde hielt an Kants Vermögen-
spsychologie fest, er trat gegen Johann Friedrich Herbarts »einfache
Vorstellungen« auf, deren Speicherung im Unbewussten und deren
Zusammenstellung zu komplexen psychischen Phänomenen die Psy-
chologie auf dem Wege der kontrollierten Introspektion ergründen
sollte. Milde sträubt sich auch gegen Herbarts Versuch, die Kant’schen
Kategorien aus einfachen dinglichen Vorstellungen abzuleiten. Laut
Herbart waren komplexere Bewusstseinsabläufe zerlegbar: nach dem
Leitparadigma der Newton’schen Mechanik seien sie bewegungsge-
setzartig als Resultate von Ballungen einfacher Vorgänge erfassbar und
in Gleichungen darstellbar;30 kritisch glossierte Milde Herbarts Ent-
wurf einer Schwellenkunde reizstimulierter Vorstellungen, die um die
Vorherrschaft über das Gemüt wetteifern, wobei die nichtdominanten
Vorstellungen in eine Latenzzone absanken, aus der sie aber wieder
emporsteigen konnten. Milde griff Kants Ästhetik auf, der zufolge das
Schöne ein Lustzustand des Subjekts, ein Harmonieverhältnis zwi-
schen Verstand und Einbildungskraft war; auch hier machte er sich die
Kant’sche Theorie der Geschmacksurteile zu eigen und grenzte sich
von Herbart ab, der die Objektgebundenheit des Schönheitsempfin-
dens betonte. Empirisch erwiesen war für Milde die Erkenntnis, dass
das Erziehungsziel die Sittlichkeit im Kantischen Sinne sein müsse;
weil lenkende Erziehung unter den Voraussetzungen der transzenden-
talen Freiheit nicht möglich sei, habe das Erziehungsprinzip die Fä-
higkeit zur Selbstbildung zu vermitteln (»perfektible Selbsttätigkeit«).31
27 Tinková, Jakobíni v sutaně.
28 Vgl. Kap. III.7.
29 Vincenz Eduard Milde, Lehrbuch der allgemeinen Erziehungskunde zum
Gebrauch öffentlicher Vorlesungen, Wien 1811-1813.
30 Horst Thomé, Metaphorische Konstruktion der Seele. Zu Herbarts Psy-
chologie und ihrer Nachwirkung, in: Andreas Hoeschen, Lothar Schnei-
der (Hg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinität im
19. Jahrhundert, Würzburg 2001, 69-82, 74.
31 Carl Wotke, Vincenz Eduard Milde als Pädagoge, Wien 1902, 73-98; Chris-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513