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210 Wissenskulturen des Vormärz
Die Universitätspolitik des frühen 19. Jahrhunderts war wider-
sprüchlich und wetterwendisch. Im Zuge der Kant-Scharmützel in
der Studienrevisionshofkommission bemerkte der klassische Philologe
Franz Hammer 1798 in seinem Gutachten, als das tauglichste System
für die Philosophenausbildung müsse weiterhin die »verbesserte Leib-
nitzisch-Wolfische Philosophie« gelten: Sie sei die »Schöpferin einer
gründlichen […] Psychologie«, zudem sei ihre Theologie »nicht nur
überzeugend, sondern auch menschenfreundlich und liberal«, ihre »mo-
ralischen und politischen Lehrsätze« untadelig, »und diese wohlthä-
tigen Wirkungen« dauerten »beinahe seit einem halben Jahrhunderte
gleichförmig fort«.46 Hammer empfahl die Beibehaltung der Leibniz-
Wolff’schen Lehre, weil sie sich politisch-moralisch bewährt habe, aus
diesem Plädoyer ergaben sich aber keine verbindlichen Grundsätze
für die Universitätspolitik.47 Vielmehr bestand in den Jahrzehnten
schaft der Wissenschaften verliehen wurde, betonte Bernard Bolzano: »Der
Gedanke, einmal einen Kursus über Leibnizens Philosophie zu halten, ist
ganz vortrefflich und der höchsten Beherzigung wert. Leibnizens Philoso-
phie steht bei unsrer Regierung in gutem Rufe, und der Gedanke, daß unser
Herzensjunge eigentlich ein Anhänger Leibnizens sei, der so viel Wahres
hätte, ließe sich beiläufig verbreiten. Ich kann nur dazu raten«, Bolzano an
Michael J. Fesl, 31. 1. 1848, in: Wissenschaft und Religion im Vormärz. Der
Briefwechsel Bernard Bolzanos mit Michael J. Fesl, 1822-1848, hg. v. Edu-
ard Winter, Wilhelm Zeil u. Liane Zeil, Berlin 1965, 408. Ebda., 28. 8. 1840,
290, gegen den Logiker und Metaphysiker Ernst C. G. Reinhold in Jena: »Er
aber scheint auch nicht einen Paragraphen aus der Wissenschaftslehre oder
auch nur das Inhaltsverzeichnis derselben gelesen zu haben, weil er sonst
schwerlich mein philosophisches System ›einen aus der Leibniz-Wolffschen
Schule hervorgegangenen usw. Eklektizismus‹ genannt haben würde.« Ebda.,
3. 4. 1827, 189. Über Guhrauers Edition von Leibniz’ De principio individuu,
ebda., 30. 1. 1839, 241, über Differenzen zwischen der Athanasia und der Mo-
nadenlehre, vgl. auch 14. 3. 1840, ebda., 278, über Bolzanos Substanzlehre
und Leibniz’ Monadologie, ebda., 10. 12. 1842, 324.
46 Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, 297.
47 Tatsächlich wurde an den vormärzlichen Lehranstalten die Gefühlsphiloso-
phie Friedrich H. Jacobis prägend, vgl. prägnant Jan Wenski, Franz Seraphin
Exner. Österreichs Philosoph und Schulorganisator. Eine geschichtlich-
pädagogische Studie, Dissertation Universität Wien 1974, 36-38, 50. Jacobi
zog aus Kants Begründung des transzendentalen Idealismus und der trans-
zendentalen Ästhetik den Schluss, dass Erkenntnis auf der Grundlage von
Wissen unmöglich sei: die bloß demonstrierende Verstandestätigkeit müsse
vor der Erkenntnis des Dings an sich kapitulieren, sie könne das Absolute,
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht beweisen. Jacobis Lösung bestand
darin, den Glauben als übersinnliches Wahrnehmungsvermögen einzufüh-
ren, als eine Form unmittelbaren und unbeweisbaren Denkens, deren Organ
die Vernunft und deren Sitz das Gefühl sei. Wie die Realität der Außenwelt
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513