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218 Wissenskulturen des Vormärz
Prozesses gegen Bolzano eine weitere Konstante: die Anschwärzung
Bolzanos als Kantianer.70
Bolzanos Lieblingsschüler Robert Zimmermann, der später in Ol-
mütz und ab 1861 in Wien als Professor für Philosophie wirkte, hat
auf diese bemerkenswerte Facette hingewiesen.71 Zimmermann hat in
einem Essay das Vorgeplänkel zum Bolzano-Prozess geschildert und
die Hintergründe des Geschehens aufgerollt. Mit dem Vorwurf des
Kantianismus waren persönliche Rachegelüste Jakob Frints verbun-
den, er verübelte es Bolzano, dass dieser sich in seinen religionswis-
senschaftlichen Vorlesungen nicht an Frints Lehrbuch hielt. Schon
1811 hatte Bolzano dem Studiendirektor der Prager Fakultät seine
Bedenken bezüglich Frints Lehrbuch der Religionswissenschaft mitge-
teilt und angekündigt, ein eigenes Ersatzlehrbuch vorzulegen.72 Frint
postulierte ja, dass die Gegenstände der sogenannten natürlichen Re-
ligion, wie die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, und die
Freiheit des Willens, wie Kant wollte, »nicht auf dem Wege der Ver-
nunft gewußt, sondern blos aus praktischen Gründen geglaubt werden
sollten […]«. Das stand nun, so Zimmermann, nicht nur »mit Bolzanos
religiöser, als vielmehr mit dessen von Kant völlig unabhängiger phi-
losophischer Überzeugung in zu grellem Widerspruch, als daß er sich
hätte entschließen« können, »sich zur Verkündigung jener und zur
Verleugnung seiner eigenen Ansicht herbeizulassen. Das Ungewitter
konnte nicht ausbleiben«. Von Wien aus wurde »in trockenen Worten
unter dem Vorwande, daß er ein ›Kantianer‹ sei und sich nicht nach
dem ›vorgeschriebenen‹ Lehrbuch halte, seine Absetzung verfügt«.
Dieser Vorwand war umso grundloser, als »nicht Bolzano, sondern
der Verfasser des Lehrbuchs ›Kantianer‹ war […]«73.
Wenn man die intensive Kant-Rezeption in den Reihen der Restau-
ration bedenkt, erscheint dieses Manöver in neuem Licht. Die Belas-
tung Bolzanos als Kantianer war ein Fall von Beweislastumkehr, Frint
wälzte den Vorwurf des Kantianismus auf Bolzano ab. An Bolzano
70 NA, fond Archiv pražského arcibiskupství, Disz. B 13 /1 /2169, Gutachten
des Prämonstratensers Adolph Koppmann (1781-1835), Bibelhermeneutiker
an der Universität Prag.
71 Vgl. zu ihm Ivo Tretera, J. F. Herbart a jeho stoupenci na pražské univerzitě
[J. F. Herbart und seine Anhänger an der Prager Universität], Praha 1989,
161-173.
72 Bernard Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft, Erster Teil [1834],
hg. v. Jaromír Loužil
[Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Reihe I, Band 6 /1 u.
6 /2], Stuttgart; Bad Canstatt 1994 /1995, Bd. I, 255.
73 Zimmermann, Philosophie und Philosophen in Oesterreich, 189.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513