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227Welches
positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik
zeugnis erfasste, suchte er damit der postrevolutionären Kritik der
Bibelexegese den Wind aus den Segeln zu nehmen: Seit 1789 galt die
Glaubenskrise als Vorbote der politischen Revolution. Die Exegeten,
die ja die heilige Schrift salamitaktisch in winzige Textpartikel zer-
kleinerten, hatten – so sahen es ihre Verächter – maßgeblich Anteil
daran, dass die Substanz des Offenbarungsglaubens sich verflüchtigte.
Diesen Vorhaltungen begegneten Johann Jahn und seine Mitarbeiter,
indem sie betonten, dass allein die wissenschaftliche Erforschung der
biblischen Bücher die Grundlagen des Glaubens unanfechtbar mache
und die Bedeutung der Bibel als Archiv der Menschheitsgeschichte
verankern könne. Für Jahn war die kritische Exegese kein Schand-
fleck, sondern geradezu ein Ruhmesblatt katholisch-aufgeklärter Ge-
lehrsamkeit, er sei, wie es in seinem Nachruf von 1817 heißt, für die
»katholische Wahrheit alles hinzuopfern im Stande gewesen«, war
aber bestrebt, »diese Wahrheit aus Gründen zu kennen, und in ihrer
Reinheit aufzufassen«.104 Eben dieser Selbstbehauptungs-Strategie be-
dienten sich die Bibelhermeneutiker im Kontext der Restauration: Sie
betrieben die Bibelexegese als »positive«, penible und quellenkritische
Wissenschaft, die größtmögliche Freiheit genießen musste, um das
Fundament des Glaubens sicherzustellen und der selbstbespiegelnden
Spekulation der Mythologen, Romantiker und idealistischen Theo-
logen einen Riegel vorzuschieben.
Die Nachfolger Johann Jahns wie Joseph Scheiner arbeiteten un-
ter dem Banner einer historisch fundierten Vernunft: Sie suchten die
Authentizität des biblischen Geschichtsberichts als älteste Urkunde
der menschlichen Geschichte zu belegen und führten dabei die kul-
turgeografisch orientierte aufgeklärte Wissenschaft vom Menschen
fort105, zum Nachweis der Authentizität des Pentateuchs beriefen sie
sich auf Glanzlichter der zeitgenössischen historischen Geografie wie
Carl Ritters Erdkunde.106 Wie schon Jahn wandten sich die vormärz-
104 [Anonym,] Nachricht, in: TPM 3. Aufl. [Rottenburg 1833], 14 V/5 [1817],
126-129.
105 Siehe Hans Erich Bödeker (Hg.), Die Wissenschaft vom Menschen in Göt-
tingen um 1800. Wissenschaftliche Praktiken, institutionelle Geographie,
europäische Netzwerke, Göttingen 2008.
106 Vgl. Joseph Scheiner, Zur biblischen Wahrheit. Bauten die alten Egyptier
auch mit Ziegeln? Eine archäologische Skizze zur Beleuchtung der histori-
schen Wahrheit Exodus I. V. mit Berücksichtigung eines Ausfalls von Prof.
von Bohlen gegen die Authentie des Pentateuchs, in: NWTZ 9 /1 (1836),
314-331, 325: »Wir würden ihm [Bohlen, FLF] ein tieferes und gründliche-
res Studium von Ritters Erdkunde (I Theil, I. Band Afrika) über Egypten
mit Nachdruck empfehlen müssen […] Wer die ausgezeichneten Leistungen
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513