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242 Wissenskulturen des Vormärz
lehrsamkeit ein, das aber unbeabsichtigte Folgen zeitigte: À la longue
verliehen die Techniken positiver Erkenntnis und die politische Mo-
dellierung des Positiven dem vormärzlichen Liberalismus seine Va-
lidität.147 Für die Bestimmung des Verhältnisses von Spätaufklärung
147 Wertvolle Perspektiven für einen Vergleich der Objektivierung des
Geschichtsprozesses in der österreichischen und preußischen liberalen
Publizistik bietet Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutsch-
land zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussiani-
sches Geschichtsbild zwischen Revolution und Reichsgründung, in: ders.,
Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 103-160, 135-136.
Hardtwig zeigt, wie der preußische Liberalismus seine Ursprünge rück-
wirkend mit jenen der Nation verschmolz und die Prinzipienkollision
zwischen liberalen und nationalen Ansprüchen vergessen machte. Die
gesellschaftlichen Zustände erscheinen als »Mittel«, deren sich die Natur
zur Realisierung ihrer »Zwecke« bediente; der objektive Geschichtsver-
lauf ermöglichte es seinen Trägern schrittweise, den zugrunde liegenden,
zuvor verhüllten Plan zu erkennen. Widersprüchliche Ereignisse wurden
»in die Gewissheit integriert«, dass »letztlich doch alles Geschehen der
Realisierung des Nationalstaatsprinzips diente«, Hardtwig, Von Preußens
Aufgabe, 157. Dass diese Denkfigur der Alternativlosigkeit, die den poli-
tischen Liberalismus zum irdischen Geschäftsführer höherer »sittlicher
Mächte«, eines objektiven Geschichtsverlaufs machte, eine obrigkeitsbeja-
hende Fügung in das Unausweichliche mit sich brachte, deutet Hardtwig
an. Welche Funktion die privilegierte Einsicht in den Geschichtsverlauf
hatte, bzw. welchen Unterschied es machte, ob dieser Prozess sich in der
Wahrnehmung der Beteiligten, dank der aktiven Vorschubleistung durch
dieselben, oder hinter ihrem Rücken vollzog, bliebe zu klären. Theodor
Fontane beobachtete 1882 über die jüngere preußische Geschichte, alles
liefe »au fond darauf hinaus, daß die Landwehrrüpel und dummen Jungen,
die lieber Helden spielen als Regeln beachten wollten, mehr Glück gehabt
und hinterher auch noch die Geschichtsschreibung besorgt haben, wobei
sie dann natürlich nicht zu kurz gekommen sind«, Theodor Fontane an
Wilhelm Friedrich, Berlin, 5. November 1882, Theodor Fontane, Briefe,
1879-1889, Werke und Briefe, hg. v. Walter Keithel, Helmut Nürnberger,
Bd. IV/3, München 1980, 217. Auf die integrative Funktion der Geschichts-
politik wies Johann Friedrich Faber in komparativer Absicht hin: Dass
man Joseph II. als »revolutionären Ketzer excommunicierte«, habe Öster-
reich eben so viel geschadet, »als die geschickte Verwerthung Friedrichs
dem doch längst von ihm abgefallenen Preußen eingetragen hat«, Faber,
Joseph II. und Franz Joseph I. Eine historische Parallele, Stuttgart 1863,
16; »Auch der dickste Kreuzzeitungsmann, der doch im Friedericianischen
Landrecht und jener übrigen Freigeisterei den wahrhaftigen Sündenfall
erblickt, schwört gleichwohl auf den alten Fritz als Repräsentanten des
ächten Preußentums, um seinen abgestandenen Partikularismus gegen die
Anmaßungen der ultramontanen Oesterreicher und die Majorisierung des
deutschen Einheitsgeistes zu vertheidigen«, ebenda. Das sei umso weniger
gerechtfertigt, als die »Reaction«, die Österreich nach Josephs Tod ergriffen
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513