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244 Wissenskulturen des Vormärz
Die liberalen Naturwissenschaftler wie Littrow bejahten die aufge-
klärte Wissensrevolution und die Verbreitung »nützlichen Wissens«.150
So wurden die »materielle« Irreversibilität und Unvermeidbarkeit öko-
nomischen Wandels der josephinischen »Objektivität« assimiliert.151 In
diesem Sinne bespricht der Staatswissenschaftler Johann Springer 1846
die Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie:
[Das] Daseyn vieler und wohlfeiler Mittel zur Befriedigung mensch-
licher Bedürfnisse [verschafft] auch wieder mehr Gelegenheit und
eine größere Leichtigkeit, die inneren Anlagen zu entwickeln. Es
unterstützt somit die Pflege der materiellen Interessen zugleich die
geistige Kultur, und zugleich zahlreicher können die Anstalten für
Unterricht, die religiöse Erziehung und Verbreitung der ächten
Aufklärung in Staaten von vorgerückter Gewerbsthätigkeit werden,
als in denjenigen, die in Bezug auf die Umgestaltung und Veredelung
der Naturproducte ein untergeordnetes, stationäres Dasein führen.152
Während sich dieser Wandel vollzog, begann auch das klassizistische
Normgefüge regelhafter, rhetorisch-poetologisch gelenkter Affekt-
steuerung über Studium und Einübung (exercitatio) zu bröckeln,153
dem sich die Bildungsfunktionäre der Restauration verpflichtet sahen.
Die verbeamtete Intelligenz von Zensoren und Rezensenten war zur
Vermittlung ewiger Bildungswerte angehalten, die unabhängig vom
Literaturmarkt mit seinem willkürlichen, flatterhaften Zeitgeschmack
gelten sollten.154 Nun waren sich aber diese von der Hand im Mund
lebenden Geistesaristokraten des Artifiziellen ihrer Position sehr wohl
150 »Die Gedanken, die früher wie die verwaisten Funken in einem verglim-
menden Papiere umherirrten, haben sich nun zu einem Ideenkreise ver-
einigt, der die höchsten Interessen der Menschheit umschließt«, [Anonym,]
Geistiges Leben in Österreich, in: Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutsch-
land 1836, zit. n. Rietra (Hg.), Jung Österreich, 103.
151 Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration, 322.
152 Johann Springer, [Rez. v.] Tafeln zur Statistik der österreichischen Monar-
chie für das Jahr 1842, Wien 1846, in: JbL 119 (1847), 77-108, 79.
153 Werner M. Bauer, Utopie und Exercitatio. Überlegungen zum Unterschied
der Antikenrezeption in der deutschen und österreichischen Literatur des
18. Jahrhunderts, in: Joseph Strelka, Jörg Jungmayr (Hg.), Virtus et Fortuna.
Festschrift für Hans-Gert Roloff, Bern 1993, 592-620.
154 Silvester Lechner, Eine Ästhetik der Zensur. Johann Ludwig Deinhardstein
als Kritiker, in: Alberto Marino (Hg.), Literatur in der sozialen Bewegung.
Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert, Tübingen 1977,
284-326, 299.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513