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251Die
postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie«
Damit war die Schablone konstruiert, auf die Otto Neurath im
frühen 20. Jahrhundert bei der Gestaltung seiner objektivistischen
»österreichischen Philosophie« zurückgreifen sollte. Der Universa-
lienrealismus, den Robert Zimmermann als Markenkern der öster-
reichischen Tradition herausgearbeitet hat,171 fügte sich gut in die
Strategien postrevolutionärer Katharsis, die eine Distanzierung von
der radikalen Deutschtümelei, von Subjektivismus und Nationalismus
erzwang. Die Selbstbehauptungsgenealogien des Vormärz lagen zur
Verarbeitung bereit, sie ließen sich in das Bild einer eigenständigen
philosophischen Tradition einarbeiten, die ihren Bedingungen nach
spezifisch österreichisch, zugleich aber universal war.172
Auch die These, der Herbartianismus sei das Zentralgestirn der
österreichischen Philosophie und Pädagogik des liberalen Zeitalters
gewesen, ist mit Vorsicht zu genießen.173 Bolzano eignete sich seiner
Märtyrerrolle wegen als Erzvater und Schutzpatron des »Liberalis-
mus«, wie brüchig die Überlieferungssequenz war, die Bolzano und
die liberalen Herbartianer verband, habe ich schon nachgewiesen. Dass
Bolzanos Philosophie dem Traditionsbestand einverleibt, faktisch aber
zusehends beiseitegeschoben wurde, habe ich angedeutet, ebenso wurde
die anglophile Peilung des liberalen Milieus anhand von Feuchtersle-
bens Argument skizziert: Die österreichische philosophische Tradition,
so hatte Feuchtersleben ja in seiner Eloge auf Littrow festgestellt, sei das
kontinentale Äquivalent des »englischen Literaturcharakters«. Diese
Englandbegeisterung trug rasch Früchte, so wurde in den 1850er Jahren
John Stuart Mill als philosophisches Wundertier und Gewährsmann für
die adäquate Erschließung positiven Wissens vom deutschösterreichi-
schen Liberalismus eingebürgert.
Mills resolut induktiv-antimetaphysisches Konzept der Erkenntnis
der Naturerscheinungen und des Seelenlebens schien vielen Liberalen
sowohl dem theonom getönten, antipsychologistischen Bolzanismus
als auch der neoabsolutistisch adaptierten Herbartschule überlegen.174
171 Robert Zimmermann, Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der
Universität. Eine Antrittsvorlesung, Olmütz 1850, 13. Vgl. Martin Seiler,
Un »Manifeste de la philosophie autrichienne«. La nomination du philo-
sophe Robert Zimmermann à l’Université de Vienne (1860 /61), in: Céline
Trautmann-Waller, Carole Maigné (Hg.), Formalismes esthétiques et héri-
tage herbartien. Vienne, Prague, Moscou, Hildesheim; Zürich 2009, 47-72.
172 Peter Simons, The Anglo-Austrian Analytic Axis, in: ders., Philosophy
and Logic in Central Europe from Bolzano to Tarski. Selected Essays,
Dordrecht 1992, 143-158.
173 Vgl. Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt, 146-151.
174 Zur Millrezeption erstmals ausführlich Franz L. Fillafer, Johannes Feichtin-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513