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290 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
ren fort. In der Historiografie werden diese Kontroversen oftmals ir-
rigerweise als Auseinandersetzung zwischen »Parteien« der »Spätauf-
klärung« und »Gegenaufklärung« beschrieben110, besonders jene über
die Streichung des Grundrechtskatalogs in der Redaktionsphase des
ABGB.111 Hier steht der Aufklärer Martini, der auf den frühen Libe-
ralismus vorauswies, dem abtrünnigen, angeblich zum Reaktionär ge-
wandelten Sonnenfels gegenüber, der nun gegen Martini – den Mann,
bei dem er studiert hatte, der ihn »denken gelehrt« hatte112 – verraten
haben soll.113
Mit dem seifenoperhaften Kontrast zwischen zwei Parteien von Auf-
klärern und Gegenaufklärern kommt man interpretativ auf keinen grünen
Zweig; der Dissens zwischen Sonnenfels und Martini sollte viel eher als
Konflikt zwischen zwei Spielarten der Aufklärung untersucht werden.114
Die persönlichen Eifersüchteleien zwischen Martini und Sonnenfels, die
sich in die Debatte mischten, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
hier eine real greifbare Rivalität um das Lancieren, Legitimieren und
historische Ableiten von Weltbildern bestand. Diese Rivalität prägte den
Kampf um Prestige und Ressourcen, der im akademisch-administrativen
Tagesgeschäft ausgetragen wurde. Hier ging es um fundamentale Fragen:
Wie sollte man die Rechte und Pflichten der Bürger im Staat begründen,
wie den Lehrplan für die Beamtenausbildung gestalten? Schon die Ur-
sprünge der Gesellschaft wurden alles andere als einhellig beurteilt: Dem
Urvertrag der Vernunftrechtler stand die bedürfnis- und triebmotivierte
Geselligkeit der Merkantilisten entgegen.
Auch die Kontroverse über die Universitäten war kein Sturm im
Wasserglas. Dahinter stand ein Konflikt, der sich an der Frage der em-
110 Etwa bei Gerda Lettner, Das Rückzugsgefecht der Aufklärung in Wien,
1790-1792, Frankfurt a. M. 1988; dies., Laßt »Bürgerfreunde« statt Fürsten
regieren! Politische Doktrin und Aktion der österreichischen Bürokratie
im 18.
Jahrhundert, in: ÖGL 33 (1989), 13-24, dazu die kritische Glosse von
Adam Wandruszka, Konfusion oder Taschenspielertrick?, ebda., 372.
111 Vgl. Kap.VI.1 und VI.3 unten.
112 Robert A. Kann, Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesge-
schichte vom Spätbarock zur Frühromantik, ü. v. Inge Lehne, Wien 1962, 154.
113 Sigmund Adler, Die politische Gesetzgebung in ihren geschichtlichen
Beziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: Festschrift
zur Hundertjahrfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, 2 Bde.,
Wien 1911, I, 83-145, 127, Fn. 70. Differenziert Stephan Wagner, Der poli-
tische Kodex. Die Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen
Rechts in Österreich, 1780-1818, Berlin 2004, 213, sowie Karstens, Lehrer
–
Schriftsteller – Staatsreformer, 23.
114 Vgl. schon Bodi, Tauwetter in Wien, 231.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513