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302 Die Monarchie als Wirtschaftsraum
Die politische Ökonomie des Vormärz wurde in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts auch Gegenstand einer »moralischen Geogra-
phie«, die sich in den Nationalhistoriografien des Habsburgerreichs
herausbildete: Das lähmende Gift der Restauration ging angeblich von
Wien aus, während in den Provinzen eine lebendige, liberal-patrioti-
sche Gelehrsamkeit blühte. Diese künstliche Aufteilung der Monar-
chie in voneinander abgekapselte Geistesräume führte schon im Neo-
absolutismus dazu, dass man nationale Wissenschaftsentwicklungen
aus dem Gesamtgefüge der regionalen Geschichte herauszuschneiden
begann, so etwa beim Nationalökonomen Gyula Kautz, der das un-
garische Reformzeitalter vom dumpfen österreichischen Vormärz ab-
hob. Es bedürfe, so Kautz, »keiner besonderen Hervorhebung«, dass
die Sonnenfels’schen Grundsätze »in der österr. Wirthschafts-Politik
und selbst in der Literatur der Universitäten bis auf die jüngste Zeit
herab […] in beinahe unbestrittenem Ansehen standen«.165
Für die Liberalen des Vormärz war Sonnenfels’ Definition des all-
gemeinen Besten als Summe der Privatinteressen der Bürger impulsge-
bend, daraus ergab sich das Anrecht der Staatsbürger auf Wohlstand,
Bequemlichkeit und Sicherheit. Adam Smiths natürliches System des
Eigennutzes und der freien Konkurrenz ersetzte bei diesen Beam-
ten schließlich Sonnenfels’ Grundsatz der Bevölkerungsvermehrung,
trotzdem wurden die Diagnosen Sonnenfels’ und seine Instrumente
gegen Monopolbildung und Preiskartelle weiterhin gutgeheißen und
angewandt. Obwohl Smiths Lehre über verschiedene Kanäle gefiltert
einströmte, fand kein abrupter Umbruch der wirtschaftstheoretischen
Auffassungen und Verwaltungspraktiken statt.
Die Aneignung der Spätaufklärung durch den frühen Liberalismus
war ebenso kreativ wie selektiv. Die Stringenzillusion eines bruch-
losen Wandels von der Aufklärung zum Liberalismus ist unhaltbar:
Vielmehr war dieser Übergang ein Prozess der Verarbeitung, durch
den die Aufklärung rückwirkend umgebildet und neu zugeschnitten
wurde. Dieses Ergebnis erlaubt es im nächsten Schritt, verschiedene
Varianten des Liberalismus anhand ihres Rückbezugs zur Aufklärung
zu unterscheiden. Besonders aufschlussreich ist es hierbei, die liberal-
katholischen Ökonomen unter die Lupe zu nehmen.
165 Julius [Gyula] Kautz, Theorie und Geschichte der National-Oekonomik.
Die geschichtliche Entwicklung und ihre Literatur. Propyläen zum staats-
und volkswirtschaftlichen Studium, 2 Bde., Wien 1858-1860, Bd. II, Die
geschichtliche Entwicklung der National-Oekonomik und ihrer Literatur,
385, Anm. *.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513