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357Der
Kantianismus in der Rechtswissenschaft
kann«.73 An die Stelle des Wahrheitskriteriums sollten in der Rechts-
lehre des 19. Jahrunderts relationale Kausalitäten (Ursache / Wirkung)
und Wertbeziehungen (Sein / Sollen) treten.
Während bei Wolff das »System« dazu gedient hatte, einen stoff-
adäquaten Zusammenhang aus dem Material zu gewinnen, war bei
Kant die Erkenntnisform von ihrem Gegenstand gelöst. Er definierte
die Form wissenschaftlichen Erkennens nicht mehr als äußerliche Zu-
sammenfassung des Stoffs, sondern als dessen inhaltliche Gliederung
nach Prinzipien.74 Die »natürliche Ordnung« der Dinge war bei Kant
ein Resultat der Verstandesleistung, der Verstand brachte als »Vermö-
gen der Regeln«75 das »mannigfaltige der Anschauungen« unter die
»reinen Verstandesbegriffe« der »Kategorien«.76 Die Erkenntnis des
Rechts durch die Vernunft, durch das »Vermögen der Prinzipien«77,
war demnach unmöglich. Vielmehr wurde das Recht durch die trans-
zendentalphilosophisch begriffene Vernunft so konstituiert, dass das
Rechtssubjekt in allen Rechtssätzen immer Subjekt einer sich selbst
bestimmenden Freiheit, niemals einer nur äußeren normativen Sol-
lensordnung ist. Kants Definition des Rechts als sich selbst gesetzes-
förmig bindende, nicht von außen rückzubindende Freiheit machte
eine dialektische Konstruktion erforderlich: diese Freiheit muss ja in
Rechtsgestalt, im Modus ihrer äußeren Selbstbindung, auch den äuße-
ren Zwang, also scheinbare Unfreiheit begründen.78
In seinem Natürlichen Privatrecht, das erstmals 1802 erschien, de-
finierte Zeiller den Menschen mit Kant als Person, der ursprüngliche,
angeborene und natürliche Rechte zukamen, als Selbstzweck.79 Das
Recht verstand Zeiller als »Einschränkung der Freyheit eines jeden
einzelnen auf die Bedingung, daß Andere neben ihm als Personen«,
73 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793], AA VIII, 290; Franz von Zeiller,
Das natürliche Privat-Recht, 3. verbesserte Aufl., Wien 1819, § 76.
74 Freindaller, Über das Geschichtliche der göttlichen Offenbarung.
75 Kant, Kritik der reinen Vernunft (weiterhin: KrV), A 126-127.
76 Kant, KrV, B 303.
77 Kant, KrV, A 405. Dagegen fungieren archetypische Urbilder, transzenden-
tal-theoretische Ideen (Gott, Welt, Seele, Staat) als Vernunftbegriffe, »denen
kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann«, KrV,
A 327/B 383-384. Praktische Ideen wiederum, wie jene des guten Willens
und des gerechten Rechts, werden konstitutiv gebraucht: die Vernunft gebie-
tet, sie annäherungsweise zu verwirklichen.
78 Vgl. Thomas S. Hoffmann, Kant und das Naturrechtsdenken, in: ARS 87
(2001), 449-467.
79 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], AA IV, 429.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513