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359Der
Kantianismus in der Rechtswissenschaft
der Friedens- und Harmonieidee diente. Kant lud seinen Rechtsbe-
griff mit formalen und materialen Gehalten auf; hierzu zählten die
Gewaltenteilung und die Volksrepräsentation84 ebenso wie die Men-
schenwürde, die allgemeine Zustimmungsfähigkeit der Gesetze, der
Gesellschaftsvertrag,85 sowie die »Verfassung von der größtmöglichen
menschlichen Freiheit«.86 Der kategorische Imperativ, der die Rechts-
gestaltung untermauerte, war doppelschneidig, er hatte Regel- und
Prinzipiencharakter: Als Prinzip erlegte er den Bürgern die Pflicht auf,
nach verallgemeinerungsfähigen Maximen zu handeln; regelförmig
wirkte der Imperativ, indem er als Maßstab fungierte
– eine Handlung
konnte dann als moralisch richtig beurteilt werden, wenn ihre Maxime
verallgemeinerungsfähig war.87
In seinem Natürlichen Privatrecht gestand Zeiller der »critischen
Philosophie« das Verdienst zu, »daß sie die wichtigsten bisher schwan-
kenden Begriffe genauer bestimmet, formelle (aus der Form der reinen
Vernunft geschöpfte) Principien auch in die Rechtslehre eingeführet,
und sie hierdurch zum Rang einer wahren Wissenschaft erhoben hat«.88
Damit markierte Zeiller einen qualitativer Sprung: Hinter Kant zu-
rückzufallen hieß ab jetzt, vorwissenschaftliche Stümperei zu treiben.
84 Ralf Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine
Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, Frankfurt a. M. 1986.
85 »Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich
aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein
gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Contract, nach welchem alle
(omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder
eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort
wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe
einen Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert,
sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine
Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem recht-
lichen Zustande, unvermindert wiederzufinden, weil diese Abhängigkeit aus
seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.« Kant, Die Metaphysik
der Sitten, Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre [1797]
§ 47, in: AA VI, 315-316.
86 Die »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, wel-
che machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen
kann« sei eine »nothwendige Idee«, »die man nicht bloß beim ersten Entwurf
einer Staatsverfassung, sondern bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß.«
Obwohl eine vollkommene Verfassung wohl unerreichbar sei, gelte sie als
»regulative Idee«, welche »das Maximum zum Urbilde aufstellt, um nach
demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich größten
Vollkommenheit immer näher zu bringen«, KrV, B 372.
87 Dreier, Rechtsbegriff, 19.
88 Zeiller, Das Natürliche Privat-Recht, § 37.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513