Page - 402 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 402 -
Text of the Page - 402 -
402 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Erlöschen des Heiligen Römischen Reichs nicht zustande.236 Das
deutsche Reichs- und Staatsrecht wurde somit hinfällig, das natür-
liche öffentliche Recht sollte weiterhin nach Martinis Positiones de
iure civitatis vorgetragen werden, und zwar in der Bearbeitung Franz
von Eggers, die 1809 und 1810 erschienen war. Dabei wurde Martinis
Kompendium in der Lehre nicht einfach ausbuchstabiert: Dass Egger
die Haller’sche Staatstheorie vortrug, wurde schon im letzten Kapitel
aufgezeigt237, andere Lehrende des natürlichen Staats- und Privatrechts
löckten in ähnlich kreativer Weise gegen den Stachel.
Eggers Bearbeitung von Martinis lateinischem Original kam unter
dem Titel Das natürliche öffentliche Recht heraus und begnügte sich
nicht etwa damit, Martinis Lehrbuch ein zeitgemäß-gefälliges Kleid
zu verleihen. Vielmehr nahm Egger markante begriffliche Umbeset-
zungen vor: Martinis »angeborene« natürliche Rechte ersetzte Egger
durch die »konstitutionellen Freiheiten« und die »moralische Verant-
wortung« des Fürsten, für Martinis Begriff der »bürgerlichen Ober-
herrschaft« wählte Egger die Formulierung »bürgerliche Majestät«.
In seiner Begründung des Gesellschaftsvertrags billigte Egger Juristen,
»Moralisten« und »Politikern« zu, die Ursprünge des Staates jeweils
nach ihrer eigenen Façon abzuleiten:
Es giebt daher keinen zureichenden Grund, welcher den Juristen
nötigt, die Ableitung der bürgerlichen Oberherrschaft unmittelbar
aus einem Vertrag aufzugeben. Anders ist es mit den Moralisten
und Politikern, welche dieselbe richtig und zweckmäßig als von
Gott herrührend darstellen.238
In seinem Essay Was ist Aufklärung? von 1784 hatte Immanuel Kant
die – heteronome – Privatvernunft des Beamten, Lehrers, Priesters
und Soldaten, bei der das »Räsonnieren« durch die Gehorsamspflicht
236 Slapnicka, Die Lehre des öffentlichen Rechts an der Prager Karl-Ferdinands-
Universität, 225. Im Studienplanentwurf von 1847 war die Einführung des
Fachs »Theorie der inneren Politik« vorgesehen, Richard Meister, Entwick-
lung und Reformen des österreichischen Unterrichtswesens, 2 Bde., Tl. II:
Dokumente, Wien 1963, 151.
237 Vgl. Kap. V.6.
238 Egger, Das natürliche öffentliche Recht nach den Lehrsätzen, 1. Aufl., Bd. I,
Wien 1809, 56 (§ 60), vgl. Waltraud Heindl, Bildung und Recht. Naturrecht
und Ausbildung der staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Habsburger-
monarchie, in: Thomas Angerer, Birgitta Bader-Zaar, Margarete Grandner
(Hg.), Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Ge-
burtstag, Wien; Köln; Weimar 1999, 183-207, 201.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513