Page - 403 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 403 -
Text of the Page - 403 -
403Gesellschaftsvertrag
und Revolutionsprävention
beschränkt war, vom autonomen bürgerlich-öffentlichen Vernunft-
gebrauch abgegrenzt, an dem jeder Mensch als »Glied eines ganzen
gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft« teilhabe.239
Kant schrieb seinen Aufsatz in der preußischen Garnisons- und Krö-
nungsstadt Königsberg, in Hörweite des »Gassenlaufens«, des Spieß-
rutenlaufs mit Bastonade, mit dem laut preußischem Dienstreglement
Soldaten für ihr »Raisonnieren« bestraft wurden.240
Während Kant also die rollenabhängige, heteronome Ausübung
der öffentlichen Vernunft im Staats- und Kirchendienst privatisierte
(»Privatgebrauch«), das Forum der gelehrten Öffentlichkeit aber als
Korrektiv einrichtete und jedem Staats- und Kirchendiener die Par-
tizipation an dieser gelehrten Öffentlichkeit zugestand, löste sich bei
Egger der öffentliche Vernunftgebrauch vollständig auf: Er zerfaserte
in ein Nebeneinander einzelner Denkkollektive, die sich zueinander
als Privatsphären verhielten. Eine übergreifende gelehrte Diskussion
zwischen Juristen, Naturforschern, Philosophen und Theologen war
unerwünscht. Egger hielt an der vernunftrechtlichen Ableitung des
Staates aus dem Gesellschaftsvertrag fest, stellt es aber jedem Amtsträ-
ger nach Ressort und berufsbedingter bounded rationality frei, seine
spartenspezifische Sicht auf die Ursprünge des Staates zu pflegen und
sich darauf seinen Reim zu machen.
Die Lehrbücher Zeillers, Martinis und Eggers wurden im Vormärz
immer wieder angegriffen, besonders von klerikaler Seite: Hier hieß
es in den Memoranden an die Studienhofkommission, das Naturrecht
zerstöre den Glauben an die Schöpfung, an die Majestät Gottes und
an die angestammte Ordnung241, der »naturrechtliche Untersuchungs-
geist« setze den künftigen Staatsdienern Flöhe ins Ohr, erziehe sie zu
Rebellen: »Geleitet von diesem naturrechtlichen Untersuchungsgeiste
und das Messer der Analyse in der Hand« schreibt Bischof Johann Mi-
chael Wagner von St. Pölten 1829 in einem Gutachten für den Staats-
239 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784], in:
id., Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.
1977, Bd. XI, 54-55.
240 Vgl. Reinhard Brandt, Trotzdem Aufklärung, in: M 71 (2017), 92-96, 96.
241 Gerhard Oberkofler, Die Verteidigung der Lehrbücher, 9-78. Weiters Peter
Goller, Joseph Winiwarters Verteidigung von Karl Anton Martinis natürli-
chem Staatsrecht (1833). Zum Fortleben von Martinis Denken im Vormärz,
in: Barta, Palme, Ingenhaeff (Hg.), Naturrecht und Privatrechtskodifika-
tion, 543-570.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513