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421Die
Naturrechtskritik der Junghegelianer
Naturrechts an zwei Errungenschaften der kantianischen Rechtslehre
fest, an der Erkenntniskritik – von den Junghegelianern als »gedan-
kenträge Resignation« belächelt, als »sich selbst negirende Weisheit,
die dem erschaffenden Geiste das Innere der Dinge auf ewig verschlie-
ßen will«287 – und an der Trennung des Rechts von der Moral.288 Wie
sollte, fragten die Verteidiger des Naturrechts, ohne diese Prämissen
ein kulturneutraler Rahmen für den rechtlichen Interessenausgleich
zwischen gleichberechtigten Subjekten geschaffen werden?
Vergleicht man also diese drei Spielarten des juristischen Libera-
lismus, dann lässt sich festhalten: Ihre Anhänger fanden die Erkennt-
nistechnik und Methoden der jeweiligen Rivalen untauglich, waren
aber zugleich überzeugt, dass allein die eigene Wissenschaftsform den
liberalen politischen Zielen entsprach, die alle drei proklamierten. Die
Junghegelianer wiesen schadenfroh darauf hin, dass die Naturrechtler
mit ihrer kantianischen Erkenntnistheorie den Gesellschaftsvertrag
eben nur als regulative Idee, als Matrix »ungeselliger Geselligkeit« auf-
fassen konnten, was ebenso wenig Gewissheit barg wie der Versuch
der Rechtshistoriker – nach der Formulierung ihres großen Vorbildes
Jacob Grimm –, »aus der Geschichte die Politik aufzuerbauen«.289
Die junghegelianische Kritik am Naturrecht betraf auch die Dis-
krepanz zwischen Ideenpolitik und Erkenntnistechnik: Für die Jung-
hegelianer waren viele Juristen an den habsburgischen Universitäten
fashion victims, sie grenzten sich feurig vom »Rationalismus« ab, weil
die akademische Mode das gebot, führten dabei aber ganz ungeniert
rationalistische Erkenntnisverfahren fort.290 Das Naturrecht war un-
geeignet für die Begründung der Rechtsformen der bürgerlichen Ge-
sellschaft. Seine Anhänger versprachen das Blaue vom Himmel, wenn
sie die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigten, konnten diese mit
ihrem Kontraktualismus und Subjektivismus aber nicht begründen.
Die Wahrheit ist, daß aus den Grundprinzipien des Rationalismus
Eigenthum, Vertrags- und Familienrecht gerade so wenig gefolgert
werden können, wie Erbrecht und Verjährung; letztere entschloß
man sich geradezu zu negiren; auf jenen haftet ein solches Prästi-
gium der Heiligkeit, in ihnen erkennt die allgemeine Intelligenz so
287 Berger, [Rez. v.] Perthaler, Recht und Geschichte, 67.
288 Herbst, Aphoristische Bemerkungen, 257-258; Moritz Heyßler, [Rez. v.]
Schnabel, Das natürliche Privat-Recht, 299.
289 Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt
a. M. am 24., 25. und 26.
Sep-
tember 1846, Frankfurt a. M. 1847, 16.
290 Moritz Heyßler, [Rez. v.] Schnabel, Das natürliche Privat-Recht, 295.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513