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439Der
Siegeszug der historisch-römischrechtlichen Schule nach 1848
Kreis es verstanden, die seit der Französischen Revolution opportune
»Überwindung« des Vernunft- und Naturrechts als Konsequenz der
deutschen rechtshistorischen Forschung des 18. Jahrhunderts darzu-
stellen.356 Diese aufgeklärten Rechtshistoriker des 18. Jahrhunderts
wurden jetzt in die Ahnengalerie der »historischen Schule« aufgenom-
men, die sich gegen Aufklärung und Revolution stellte.
Über die bleibende Verquickung des historischen Methodenpro-
gramms mit freiheitlichen materialrechtlichen Gehalten darf Savignys
geschichtspolitisches Manöver nicht hinwegtäuschen. Das lässt sich
etwa schlaglichthaft am agrargeschichtlichen Programm der histori-
schen Schule aufzeigen: Indem Barthold Georg Niehbuhr und Savigny
die Usurpation des ager publicus durch den römischen Adel rekon-
struierten, verfolgten sie eine liberale und antirevolutionäre Lösung
der drängenden vormärzlichen Agrarfrage, die dem Konzept des habs-
burgischen Hofrats Franz von Keeß ähnelte. Niebuhr und Savigny
führten den Nachweis, dass im republikanischen Rom das bäuerliche
Volleigentum über Durchgangsstufen des Besitzes und Nießbrauchs
begründet wurde.357
Die vormärzliche Justierung der »geschichtlichen« Betrachtungs-
weise gegen Aufklärung und Revolution führte auch dazu, dass die
Scharniere zwischen der historischen Schule und der kantianischen
Rechtsphilosophie in Vergessenheit gerieten. Solche Schnitt- und
Schaltstellen zeigen sich gerade im Bereich der Normaufbereitung
(Systembegriff) und bei der Verlagerung der Quellbezirke (»Urfond«)
der Rechtsschöpfung in das historisch-»positive« Material.358 Bei
aller äußeren Ablehnung des Vernunftrechts besaß das Savigny’sche
»Volksrecht« Systematizität und entelechiale Qualität. Aus dem
»universalen Fond« (Savignys »allgemeinem Element«, der »überall
gleichen sittlichen Würde und Freiheit des Menschen«) entstanden
verschiedene Manifestationen kulturspezifischer Rechtstraditionen;
356 Hammerstein, Der Anteil des 18. Jahrhunderts; Buschmann, Estor, Pütter,
Hugo.
357 Alfred Heuss, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge, Göt-
tingen 1981, 121-122; Arnaldo Momigliano, Barthold Georg Niebuhr and
the Agrarian Problems of Rome, in: HaT Beiheft 21 (1982), 3-15; James
Q. Whitman, The Legacy of Roman Law in the German Romantic Era:
Historical Vision and Legal Change, Princeton 1990, 166-189. Zu Keeß s.
366-367 oben.
358 Maximiliane Kriechbaum, Römisches Recht und neuere Privatrechtsge-
schichte in Savignys Auffassung von Rechtsgeschichte und Rechtswissen-
schaft, in: Reinhard Zimmermann u. a. (Hg.), Rechtsgeschichte und Privat-
rechtsdogmatik, Heidelberg 1999, 41-63.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513