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450 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Zins- und Preissätze, natürliche Allokation von Gütern, natürliche
Religion, Naturgesetze, Naturgeschichte des Menschengeschlechts).
Dieses Methodenensemble war über Naturzustände und über re-
kursive Operationen zum Nachweis derselben integriert, an seinem
Zerfall lässt sich die Historisierung der Aufklärung ebenso ablesen,
wie die Ausdifferenzierung der Fächer im frühen 19. Jahrhundert. Im
letzten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass die liberalkatho-
lischen Gelehrten und Praktiker, denen es um die Begründung des
»Positiven« in der politischen Ökonomie zu tun war, ihr »natürliches
System« gegen den spekulativen und kontraktualistischen Rationalis-
mus ins Treffen führten, dem sie den Merkantilismus und, in Bausch
und Bogen, die Aufklärung zuordneten. Für diese Ökonomen fielen
»Natur« und »Positivität« zusammen. Dagegen vollzog sich die Be-
gründung der »Positivität« in der Rechtswissenschaft des 19.
Jahrhun-
derts in schroffer Abgrenzung vom Naturrecht, und zwar entlang von
drei Linien: in der »romantischen« Rechtsgeschichte, in dem von den
Junghegelianern angepriesenen Fortschritt vom Subjekt zum »Geist«
und zur »Versittlichung« des Gemeinwesens, und, zuletzt, in der von
der Pandektenwissenschaft praktizierten, pseudohistoristischen appli-
kativen Hermeneutik des Justinianischen Kodex, die auf das ABGB
angewendet wurde. Natur und Positivität waren hier, anders als in der
Ökonomie, geradezu Gegenbegriffe.
Die »historisch-positive« Pandektenwissenschaft hat über ihre Vor-
gänger den Stab gebrochen, die sie als engstirnige Einfaltspinsel verun-
glimpfte. Diese sogenannte »exegetische Schule« erschöpfte sich aber,
anders als die Pandektisten glauben machten, keineswegs im banalen
Buchstabendienst am ABGB. Die gesetzestechnische Relevanz des Na-
turrechts für die Objektivierung der liberalen Privatautonomie habe
ich schon aufgezeigt, ebenso, dass Rationalität und Systemhaftigkeit
hier von Attributen der Natur zu Attributen der Rechtswissenschaft
selbst wurden. Beim Verzicht auf die josephinische, bodenpolitische
Aufladung des geteilten Eigentums und bei der Ausscheidung des
Grundrechtskatalogs von Martini griffen die sich überpolitisch gerie-
rende Verwissenschaftlichung der Rechtsauslegung und die Objek-
tivierung des liberalen Eigentumsrechts ineinander. Ebenso wie die
»Naturrechtskodifikation« ABGB ist die »naturrechtliche« Prägung
der exegetischen Schule ein gerne bemühter Gemeinplatz, der aber
die Auslegungsarbeit eher vernebelt. Auf die Verschachtelung von ge-
mein-, deutsch- und naturrechtlichen Instituten verschiedener Prove-
nienz im ABGB habe ich aufmerksam gemacht, ebenso auf die kreative
Fortbildung des ABGB durch das Juristenrecht des Vormärz.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513