Page - 452 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 452 -
Text of the Page - 452 -
452 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
liberalen Pandektisten verstanden es, die vormärzliche Naturrechts-
Jurisprudenz als rückständig und kryptorevolutionär zu brandmarken.
Indem sie den exegetischen Naturrechtlern die Schuld für die Revolu-
tion zuschanzten, überspielten die liberalen Pandektisten wie Joseph
Unger elegant ihre eigene junghegelianisch-revolutionäre Vergangen-
heit. Zugleich versprachen die Pandektisten, Österreichs Zukunft im
größeren Deutschland auf dem Terrain der Wissenschaft zu sichern,
indem sie nämlich den Anschluss der österreichischen Jurisprudenz an
die überlegene und revolutionspräventive römisch-historische Rechts-
wissenschaft deutscher Prägung vollzogen. Diese Akzentuierung des
»Historischen« und »Positiven« entsprach den Direktiven des Unter-
richtsministers Graf Leo Thun-Hohenstein und seines Beraterkreises,
hier wünschte man sich eine einwandfrei antirevolutionäre Rechts-
lehre, die der fortschrittlichen deutschen Wissenschaft das Wasser
reichen konnte.
Leo Thun-Hohensteins Zerstörung des vormärzlichen Studiensys-
tems bedeutete einen folgenschweren organisatorischen und wissens-
kulturellen Umbruch: Indem Thun das aufgeklärte Naturrecht für die
Revolution verantwortlich machte, schüttete er das Kind mit dem Bade
aus. Thuns »Josephinismus-Komplex« (Hans Lentze) brachte nicht
nur die Demontage des naturrechtlich geprägten Jusstudiums mit sich,
die Vertilgung des »Josephinischen« bewirkte eine Verleugnung und
Verneinung des Österreichischen. Leo Thuns Studiensystem förderte
also den Liberalismus, den es bekämpfen sollte. Als die Saat der Stu-
dienreform an den Hochschulen aufging, war die konservative und
loyale Elite, die Thun vorschwebte, nicht einmal in Spurenelementen
vorhanden: Stattdessen sollten Protektionskinder und Propagandisten
des Großdeutschtums die Universitäten bevölkern.
Abschließend erhebt sich die Frage: Hielt die »historische« Be-
trachtungsweise der Pandektenwissenschaft, was sie versprach? Worin
bestand die Bedeutung dieser Spielart der Geschichtlichkeit für die
restrukturierte Wissenschaftslandschaft der Monarchie? Joseph Un-
ger, der Begründer der österreichischen Pandektistik, führte gerne das
»liebevoll eingehende Studium der Vergangenheit« im Munde. Mit der
Erkundung »vaterländischer« Rechtsquellen, wie sie die patriotische
Rechtsgeschichte des Vormärz betrieb und Leo Thun-Hohenstein
noch zu Beginn der 1850er Jahre ankündigte, hatte das freilich nichts
zu tun: Die Vergangenheit, deren Ergründung Unger als Revolutions-
prophylaxe und Matrix für eine liberale Gesellschaftsordnung pries,
war jene des alten Rom. Das ABGB wurde in das Prokrustesbett des
pandektistischen Systems gezwängt, nicht etwa auf seine vaterländi-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513