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502 Überblick
hoch im Kurs, in den 1820ern und 1830ern wurde sie aber zum Ein-
fallstor für jenen Liberalismus, dessen Abwehr sie eigentlich diente:
Die liberalen Beamten und Naturforscher jener Jahre legitimierten die
technischen, sozio-ökonomischen und industriellen Fortschritte ihrer
Zeit, indem sie diese als Resultate der altehrwürdigen göttlichen Ord-
nung erfassten, als Systemeffekte, die sich aus der inhärenten Logik
des Weltgesetzes ergaben.
Die liberalen Nutzer des restaurativen Wissensregimes krempelten
also die politische Wirkabsicht um, mit der es einst um 1800 in die
Welt gesetzt worden war. Zugleich wurden auch die anderen vormärz-
lichen Praxisformen, die aus der katholischen Aufklärung überliefert
waren, in neue Funktionskontexte verpflanzt. Bernard Bolzano hatte
in Prag eine eigene Spielart des Leibniz-Wolff’schen Objektivismus
entwickelt, mit Leibniz ging Bolzano von einem Realismus der Uni-
versalien aus, nahm also die Realität objektiver Allgemeinbegriffe an,
welche unabhängig von den sprachlichen Zeichen existierten, die sie
abbildeten. Bolzano unterrichtete an der Prager Karlsuniversität Re-
ligionslehre, verlor aber im Zuge der Verfolgung studentischer nati-
onalliberaler Tendenzen seinen Lehrstuhl. Um 1848 wurde Bolzanos
Lehre von den Anhängern Johann Friedrich Herbarts vereinnahmt,
die sich im Zuge der Bildungsreform Franz Exners und Leo Thun-Ho-
hensteins als Garanten antirevolutionärer Wissenschaft zu profilieren
suchten. Die Herbartianer bauten Bolzano, der als Märtyrer des Poli-
zeistaats galt, zu ihrem österreichischen Vorläufer auf; dabei verwarfen
sie aber Bolzanos Objektivismus, der den mentalen und sprachlichen
Ausdruck der untersuchten logischen Wahrheiten geringschätzte.
Stattdessen arbeiteten die Herbartianer an einer ästhetisch fundierten,
objektiven und kulturneutralen Form sittlicher Willensbildung: Über
die ästhetische Erkenntnis der jedem geschulten Geist zugänglichen
objektiven Formen des Schönen sollten die Bürger naturnotwendig
zu den ebenso allgemeingültigen, als schön empfundenen ethischen
Prinzipen gelangen, die dem liberalen Weltentwurf zugrunde lagen.
Die Aneignung des Bolzano-Erbes durch die Herbartianer ermög-
lichte die Konstruktion der »österreichischen Philosophie«, die nach
1848 erfolgte: Sie wurde damals als postrevolutionäre Selbstbehaup-
tungsgenealogie der habsburgischen Intelligenz gegen die idealistische
deutsche Systemphilosophie entworfen, um die Eigenständigkeit und
Überlegenheit des österreichischen Geisteslebens zu beweisen.
Der Herbartianismus wurde von den Bildungsreformern in der
Regierung forciert. Für die habsburgischen Gelehrten erfüllte er eine
doppelte Funktion, er entsprach ihren postrevolutionären Abgren-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513