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504 Überblick
strumente Sonnenfels’ zur Vermeidung von Kapitalstockungen und
Kartellbildungen sowie zur Steuerung von Handelsflüssen, setzten
aber an die Stelle seiner Maximen der Wohlstandsmehrung – durch
Bevölkerungswachstum und Handelsbilanzüberschüsse – den Eigen-
nutz und die freie Konkurrenz. So vermochten Ökonomen wie der
Prager Staatswissenschaftler Wenzel G. Kopetz Sonnenfels’ Konzept
des »allgemeinen Besten« als Summe der Privatinteressen der Bürger
an die politische Ökonomie Adam Smiths anzuschließen. Im frühen
19. Jahrhundert war ein fruchtbares Milieu geselliger Gewerberecht-
ler, Kaufleute und Gutsbesitzer entstanden, das den Werthorizont der
Freimaurerlogen aus der josephinischen Zeit – damals galten Gemein-
sinn, Toleranz und wohlverstandener Eigennutz als Vehikel des »all-
gemeinen Besten« – in das Vereinswesen des Biedermeier übersetzte.
Sonnenfels’ Vorlagen wurden also im Lehrbetrieb, in den Behörden
und in der juristischen Praxis vielfach gefiltert, zugefeilt und adaptiert.
Gewerberechtler wie Ignaz von Sonnleithner und Vincenz August
Wagner schöpften aus ihrer Alltagserfahrung der Geselligkeit, wenn
sie den Staat weder als fürstliches Patrimonium noch als Besserungsan-
stalt für die Untertanen verstanden, sondern als »bürgerlichen Verein«
– was wiederum dem natürlichen Staatsrecht entsprach, das bis 1848
an den Universitäten der Monarchie gelehrt wurde. Somit bestanden
fließende Übergänge zwischen dem aufgeklärten Merkantilismus und
dem Programm der vormärzlichen Beamten, welche die Freigabe des
Verkehrs, Erwerbs und Verzehrs betrieben und sich dabei der theore-
tischen Eckpfeiler sowie des Instrumentariums Sonnenfels’ bedienten,
um ihre eigenen Ziele zu verfolgen; ähnlich kreativ verfuhren diese Ju-
risten und Staatsdiener bei der Auslegung altbewährter Normen, wenn
sie etwa mittels der fürstlichen Patent- und Privilegiengesetzgebung
einen Markt für Gewerbelizenzen etablierten.
Zur gleichen Zeit vollzog sich durch die aufgeklärten Agrarrefor-
men unter Maria Theresia und Joseph II. die Lockerung grund-, guts-,
und leibherrlicher Bindungen, damit wurde ein Meilenstein gesetzt, der
die Sozial- und Rechtsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts prägte.
Trotz aller antirevolutionären Rhetorik, mit der sich das Kaisertum
Österreich um 1800 als Hort der alten Ordnung inszenierte, konnte so
nämlich ein liberales Eigentumsregime entstehen, in dem vordergrün-
dig an die Stelle der Grunduntertänigkeit und persönlichen Unfreiheit
der Bauern die Belastung des bewirtschafteten Bodens trat. So wurden
die Untertänigkeitsverhältnisse als privatrechtliche Verträge gedeutet,
die Pflichtdienste als eine Art Pachtzins, der auch abbezahlt werden
konnte. An den realen Machtverhältnissen auf dem Lande änderte
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513