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506 Überblick
in Ungarn mit seinen adeligen Agrareliten gar nicht erst entstehen.
Mit dem liberalen Entwurf des Binnenmarktes verschob sich die Un-
garn von den Zentralbehörden zugedachte Rolle: Waren die ungari-
schen Länder bis in die 1820er Jahre wegen der Steuerfreiheit ihres
Adels und der Unveräußerbarkeit des adeligen Landbesitzes nicht in
den erbländischen Komplex einbezogen worden, so sollte nun gerade
die ökonomische Integration Ungarns seine politische Einverleibung
herbeiführen. Auf diese Weise wurde das »liberale« Versprechen des
Freihandels im Binnenmarkt der Monarchie um 1840 von der Wiener
Hofkammer unter Carl von Kübeck als Lockvogel benützt, obwohl
die von Wien aus gesteuerten Außenzölle und die unilaterale Wäh-
rungspolitik fortgesetzt werden sollten.
Anhand der Budget- und Geldpolitik lässt sich schließlich der spe-
zifische Liberalismus der Restaurationsära prägnant charakterisieren:
Das Finanzpatent des Grafen Wallis von 1811 entwertete die Währung
und griff rückwirkend massiv in private Schuldverhältnisse ein. In
Ungarn löste das Dekret eine veritable Verfassungskrise aus, während
es in den Erbländern die Kriegskostensanierung durch die 1817 ge-
gründete Nationalbank vorbereitete. Schon seit dem 18. Jahrhundert
wurden Privatvermögen mittels der ausgegebenen Staatsanleihen zur
Finanzierung des Haushalts herangezogen, nunmehr geschah dies sys-
tematisch über die emittierten Aktien und Papiere der Nationalbank.
Die Staatsschuld wurde in den Privatkredit der Bank eingehüllt, die
Untertanen fanden sich nicht als Stimmbürger mit mittelbarer Haus-
haltshoheit in die Budgetkontrolle eingebunden, sondern im Modus
der Gläubigerbeteiligung. Der Staat verschanzte sich hinter der Bank
und entzog sich durch ihren vordergründig privatrechtlichen Charak-
ter einer genuinen öffentlichen Rechenschaftspflicht über sein Budget.
Das sechste Kapitel widmet sich der Monarchie als Rechtsstaat.
Den Ansatzpunkt bildet hier das Naturrecht, genauer: Sein Prestige
in der vormärzlichen Habsburgermonarchie. Dieser Befund mag für
sich genommen schon überraschen, erklärungsbedürftig scheint er
allemal, gilt das Naturrecht doch landläufig als Quelle der Französi-
schen Revolution und als wichtigstes Bindeglied zwischen Aufklärung
und Liberalismus. Wie lässt sich nun erklären, dass die juristische
Staatslehre an den habsburgischen Universitäten bis 1848 auf dem na-
türlichen öffentlichen Recht beruhte, weshalb gab sich die Monarchie
mit dem ABGB von 1811 ein bürgerliches Gesetzbuch, das als Natur-
rechtskodifikation gilt? Wie gestaltete sich unter diesen Bedingungen
das Verhältnis der Aufklärung zur Restauration sowie zum frühen
Liberalismus?
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513