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508 Überblick
verpönten Immanuel Kant auf: Er schied das Recht von der Moral,
statuierte die Freiheit anstelle der Pflicht als Anspruchsgehalt des bür-
gerlichen Rechts und wertete das Individuum zum Selbstzweck auf.
Indem Zeiller das Gesetzbuch als Schutzwehr gegen die Revolu-
tion positionierte, gelang es ihm, den damals schwelenden Zielkonflikt
zwischen der Privatrechtskodifikation und dem von Sonnenfels lan-
cierten Kodex der Verwaltungs- und Verfassungsgesetze für sich zu
entscheiden. Zeiller kleidete die hochpolitische Prämisse der Rechts-
fähigkeit aller Bürger in das Gewand eines universalen und überpoliti-
schen Prinzips. So konnte Zeiller das ABGB von all jenen Elementen
säubern, die er als dem zivilrechtlichen Kodifikationsauftrag fremde
Zutaten präsentierte: Weder fungierte das Gesetzbuch als Anstalt zur
Verbesserung der Sitten, wie es der Wolffianer Carl Anton von Martini
gefordert hatte, noch bildete es ein System der allgemeinen Wohlfahrt,
wie Sonnenfels es anstrebte. Im Kontext der Revolutionsabwehr besaß
das ABGB somit gegenüber Sonnenfels’ »Politischem Kodex« einen
klaren Wettbewerbsvorteil: Die Schöpfer des Gesetzbuches befreiten
es vom Ballast ethischer, sozialregulativer und verfassungsrechtlicher
Elemente. Weder erhoben sie den Anspruch, die Bürger zu erziehen,
noch belehrten sie den Staat darüber, wie zu regieren sei. Eben dieser
Regelungsverzicht öffnete die Nische, in der sich Zeiller und seine
Mitarbeiter einrichten konnten. So wurde das Naturrecht der Spätauf-
klärung antirevolutionär umgerüstet, mündete aber unterschwellig
in ein Resultat, das weder der Kaiser noch die Hofkanzlei beabsich-
tigt hatten: Die Redakteure des ABGB gestalteten eine selbststän-
dige Sphäre bürgerlicher Freiheit, Privatautonomie und allgemeiner
Rechtsfähigkeit, die weder von Gott gewollt noch vom Fürsten ge-
währt, sondern aus sich selbst begründet war. Daraus ergab sich drei-
erlei: Die Emanzipation der Rechtswissenschaft von der Religion und
vom Wohlfahrtsstaat, die Abkoppelung der Gesetzgebungskunst vom
Gutdünken des Monarchen als Normermittler und die Befreiung der
»bürgerlichen Gesellschaft« von der fürstlichen Lenkungskompetenz.
Zugleich fungierte das Naturrecht weiterhin als imperialer Filter,
der es im Verlauf der Kodifikation erlaubte, die Gesetze der Kronlän-
der auszumustern: Den Gesetzgebern zufolge besaßen diese Rechts-
traditionen lediglich lokale Gültigkeit, waren also in einem »allgemei-
nen« Gesetzbuch, das ewige Prinzipien verkündete, fehl am Platze. So
diente das natürliche Privatrecht dazu, die Überlieferungen der Länder
vom Tisch zu wischen. Das Naturrecht war aber ein zweischneidiges
Schwert: Während es die Schöpfer des ABGB zur Festigung der Zen-
tralgewalt einsetzten, wurde es in den Ländern benützt, um eben diese
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513