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Joseph Lanner – Leben und Werk
Musik ist Dialog. Mozart wäre zutiefst beleidigt gewesen, hätten seine Zuhörer nicht zwischen den Sätzen
geklatscht. Beethoven dürfte nur scheinbar unempfindlich für Publikumsreaktionen gewesen sein (zu-
mindest im Moment der Aufführung), seine Briefe sprechen eine andere Sprache und lassen seine Sehn-
sucht nach unmittelbarer Anerkennung durchklingen. Das ritualisierte passive Hören im Konzertsaal
existierte am Beginn des 19. Jahrhunderts noch lange nicht, das Abstellen des störenden Geschwätzes
während der Darbietung wurde erkauft mit Verlust an Spontaneität und Anteilnahme.
Dem Interpreten steht das Publikum nie einfach als Masse gegenüber, sondern immer als Summe der
anwesenden Individuen. Der Sänger, der Geiger, der Kontakt mit seiner Zuhörerschaft sucht, der den
Funken über die Rampe springen lassen will, blickt in Einzelgesichter, selbst dort, wo die Bühne weit
entfernt von den ersten Sesselreihen ist und das Scheinwerferlicht blendet. Kein Künstler kann unberührt
bleiben, wenn Ablehnung oder – schlimmer noch – Gleichgültigkeit ihm entgegen schlägt, knisternde
Spannung hingegen ihn zu Höchstleistungen anspornt, die zu erbringen er sich in seinen kühnsten Träu-
men nicht hätte vorstellen können.
Zuvor Gesagtes gilt nicht nur für den Konzertdirigenten Lanner, weit mehr noch für ihn als den Leiter
seiner Tanzkapelle, für den Interpreten seiner Walzer und Galoppe. Das Orchester weit über dem Tanz-
boden aufzustellen, erwies sich bei Lanner als nicht ratsam: man wollte ihn nicht nur sehen, ja nicht
einmal nur hören, man wollte seine physische Präsenz, seine Ausstrahlung spüren. Lanners Wirkung vor
allem auf seine weiblichen Zuhörer war enorm. „Die Damen saßen in schweigsamer, beobachtender Hin-
gegossenheit, schienen ganz in Gefühlsauflösung begriffen gewesen zu seyn, denn Lanner ist ein Liebling
der Frauenwelt nicht minder, wie der fashionablen Männerwelt.“273 Sie entbehrte durchaus nicht einer
gewissen erotischen Komponente („… sich schon in die Herzen so vieler Schönen schlichÂ
…“274). Aus der
Wechselbeziehung Mann-Frau, die jeden Paartanz prägt, wurde eine – unausgesprochene – Dreiecksbe-
ziehung. Bei jeder Walzerdrehung drehte sich nicht nur Lanners Musik, drehten sich nicht nur seine Ideen
mit, sondern gleichsam er selbst wurde zum unsichtbaren, dafür aber umso präsenteren Tanzpartner.
Diese tiefgehende Wirkung seiner Musik – tiefgehend buchstäblich, weil nicht im Adornoschen Sinne
reflektiert, sondern direkt einwirkend vom Scheitel bis in die Zehenspitzen hinein – machte Lanners
Geheimnis aus, das sich formal-analytischer Betrachtung weitestgehend verschließt.
Virtuosentum
„Der ‚Virtuose‘ ist heutzutage stark in Misskredit.“
(Julius Kapp, Paganini) 275
Der Wiener begegnet dem Virtuosen mit Skepsis. Er traut ihm nicht, hält seine Kunststücke für Talmi.
Seine größten Erfolge erzielte Nestroy mit Parodien, in denen er Übermenschliches, Unfassbares herunter
brach auf die Vorstellungswelt der kleinen Leute aus der Vorstadt. Wie die Griechen höchst intimen Um-
gang mit ihren Göttern pflegten, so lädt der Wiener seinen Herrgott (und, wenn es dienlich scheint, auch
den Teufel) auf ein Glas Wein ein zum Heurigen und reduziert ihn, die „Reblaus“ auf den Lippen, bis zur
Erträglichkeit.
In der Beurteilung des „Virtuosentums“ überwiegt in der Musikwissenschaft Vorsicht: Riemann be-
lässt es bei einem eher allgemein gehaltenen „Meister der Technik“, zählt die wichtigsten Perioden auf,
ohne sich auf Wertungen einzulassen.276 H. Loos erwähnt durchaus die negativen Begleiterscheinun-
gen (inklusive Schumanns „Virtuosengeklimper“), sieht in Paganini und Liszt aber einen „glänzenden
273 Der Wanderer 6. 3. 1841.
274 Der Wanderer 22. 8. 1840.
275 Julius Kapp, Paganini, Berlin 1913.
276 Riemann, a.a.O. Artikel „Virtuose“ S. 1203, Spalte 1.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der Abkürzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- Flüchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang