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Albert Lichtblau
Antisemitismus 1900–1938
Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte
Zuerst sei festgehalten, dass 1900 in Bezug auf den Antisemitismus keine glücklich
gewählte Zeitenwende ist, denn die wesentliche Wende fand fünf Jahre zuvor statt :
das Durchsetzen der christlichsozial-antisemitischen Bewegung in Wien unter Karl
Lueger 1895. Für die jüdische Bevölkerung war der Erfolg der Antisemiten erschüt-
ternd und zutiefst ernüchternd. Alle Hoffnungen, die mit liberalen und aufkläreri-
schen Ideen der Gleichberechtigung in Verbindung gestanden waren, schienen zu
zerbrechen, die Lebenskonzepte von Anpassung und Partizipation gefährdet. Ein Teu-
felskreis antijüdischer Xenophobie wurde offensichtlich : Im Zusammenspiel mit der
von nationalen Konflikten im Kampf um Hegemonie und Autonomie aufgeladenen
Zeit waren die antijüdischen Angriffe in einer Art und Weise in den Vordergrund ge-
rückt, wie dies in den Jahren zuvor unvorstellbar gewesen wäre.
Antisemitische Demagogie gehörte seit den 1880er-Jahren zum Unterhaltungsre-
pertoire der einschlägigen Politiker, die sich im Zuge der Demokratisierung um die
Wählerstimmen der neuen wahlberechtigten sozialen Schichten kümmerten. Alle Be-
mühungen, wie etwa die Gründung (1891) des von prominenten nichtjüdischen Mit-
gliedern getragenen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ durch Freiherr Arthur
Gundaccar von Suttner, und alle Versuche, dem Antisemitismus mit rationaler Argu-
mentation zu begegnen, waren schon um 1900 zum Scheitern verurteilt. Es schien, als
spiele die Welt völlig verrückt, denn antisemitische Beschuldigungscollagen übernah-
men die Diskurshoheit. Die von den Antisemiten kolportierten Vorwürfe waren un-
geheuerlich banal. Dennoch fanden sie ein aufnahmebereites Publikum, das sich aus
dem Gemisch aus Aberglauben, Neid und Missgunst, Allmachtsfantasien und ihren
Existenzängsten eine antijüdische Aversionsmentalität zurechtzimmerte, die sich in
die Herzen der Menschen und damit in die Mentalitäten mehrerer Generationen
einschrieb. Die antisemitischen Politiker nutzten den Antisemitismus als propagan-
distisches Mittel der Skandalisierung und erregten damit nicht nur Resonanz beim
Publikum, sondern mediale Präsenz. Damit gelang es ihnen nicht nur, sich ins Gerede
zu bringen, sondern sie erkannten auch die Kraft der Inszenierung auf der politischen
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519