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Hanno Loewy
Vom Schielen der Sinne
Feuilletons und Film : Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen
Ein ungarischer Dichter wollte er sein, ja der ungarische Dichter. Doch das Leben
hatte mit Béla Balázs anderes vor. Seine Lebensphilosophie hatte er mit (und gegen)
Georg Simmel und Henri Bergson in Berlin und Paris erprobt. Mit Georg Lukács und
anderen Budapester Freunden, wie Zoltan Kodaly hatte er versucht, in Liebens- und
Lebensexperimenten – und einer Reihe von „gemeinsamen“ Frauen – zur wahren
Existenz jenseits der Entfremdung zwischen Kunst und Leben vorzustoßen. Litera-
risch experimentiert hatte Balázs schon mit allen Gattungen und Genres, mit dem
Versuch, den Zauber des Märchens in Erzählformen der Gegenwart freizulegen, als
das katastrophale Scheitern der ungarischen Rätediktatur 1919 seinen Träumen ein
Ende machte. Balázs hatte sich von seinem „intellektuellen Waffengefährten“ und
Mitbegründer des Budapester Sonntagskreises, hatte sich von Georg Lukács als „der
Dramatiker des neuen Ungarn“ feiern lassen. Er hatte Gedichte und Märchen, No-
vellen, Mysterien und Opernlibretti, Schattenspiele und Tanzdramen geschrieben,
freilich auch kleine feuilletonistische Reiseberichte für die Zeitschrift Világ (Die Welt).
Doch das war entfremdeter Broterwerb …
In der Revolution sollte all dies „eins werden“, sollten die Kunst und die Massen
wieder zusammenfinden. Balázs propagierte das Theater als Ritual, als „heiliges Fest
des Volkes“, als Erweckung der Massenseele – einer Masse, „die in ihrer dionysischen
Begeisterung wirklich zu einem einheitlichen Bewußtsein, zu einer Seele zusammen-
geschweißt worden ist“.
Doch der Rausch der Rätediktatur war kurz. Im August 1919 wurde Budapest von
rumänischen Truppen besetzt. Im November feierte Admiral Horthy seinen trium-
phalen Einzug, und der weiße Terror, den roten weit übertreffend, wütete noch einige
Zeit.
Georg Lukács widmete Balázs 1918 einen eigenen Essayband : Balázs Béla és akiknek nem kell (Béla Ba-
lázs und die, die ihn nicht mögen), Gyoma : Kner, 1918.
Béla Balázs, „Das Theater des Volkes“, in : Die Neue Schaubühne, Jg. 1, H. 7, 1919, S. 201.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519