Page - 229 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der
Geschlechtsidentität im Fin de Siècle
In der kritischen Betrachtung antisemitischer Stereotypen fällt auf, dass diese zu-
mal ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts häufig um sexualisierte und
spezifisch vergeschlechtlichte Motive kreisten. Es ist davon auszugehen, dass eine be-
stimmte Konstruktion von Geschlecht als ein Medium für das Funktionieren des
Antisemitismus im säkularisierten, kapitalistischen Europa fungierte und dass diese
Konstruktion dazu beitrug, die einzelnen Stränge der antisemitischen Motivation zu-
sammenzuhalten.
Dass die antisemitischen Judenbilder so eminent von zeitgenössischen Geschlech-
tervorstellungen durchzogen waren, ist ein Grund für ihre Widersprüchlichkeit. So-
wohl die antisemitischen als auch die misogynen Vorurteilsformen verraten eine starke
Ambivalenz im Denken und Verhalten, die sich in den Bildern des „effeminierten
Juden“ zum offenen Widerspruch steigerte. Ihre Wirkungsmacht bezogen sie gerade
daraus, dass sie eine Kanalisierung der ambivalenten Haltung der AntisemitInnen
und AntifeministInnen ermöglichten. Eigentümlich ist solchen Bildern ein Nebenei-
nander von völlig Unverträglichem. Jenes etwa der „belle juive“, der „schönen Jüdin“,
hat im gentilen Europa eine lange Tradition, bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein
war es ein wesentlicher Bestandteil der sogenannten Konversionsliteratur : an der
„schönen Jüdin“ als Konvertitin wurde die vorgebliche Haltlosigkeit der jüdischen
Religion demonstriert. Diese Demonstration galt jedoch nicht sosehr den Juden und
Jüdinnen, denen damit eine Konversion zum Christentum nahegelegt werden sollte,
sondern in viel stärkerem Ausmaß der Rückversicherung der Christen und Christin-
nen selbst, die in ihrem Glauben längst nicht so gefestigt waren, wie sie sich gerne den
Anschein gaben. Das legt nahe anzunehmen, dass die Ambivalenz der ChristInnen
Vgl. Christina von Braun, „,Der Jude‘ und ,Das Weib‘. Zwei Stereotypen des ,Anderen‘ in der Mo-
derne“, in : metis 2/1992, S. 6–28, S. 9.
Vgl. Florian Krobb, Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom
17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1993.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519