Page - 385 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Wolfgang Müller-Funk
Mit einem ›e‹
Zwischen Diaspora und Assimilation. Ein Streit unter Freunden :
Joseph Roth und Soma Morgenstern
Gibt es glückliche Fremde ?
(Julia Kristeva)
Eine Kontroverse zwischen zwei Autoren mit unstrittig jüdischem Hintergrund bildet
den Ausgangspunkt meines Essays – wobei ich einschränken möchte, dass diese Kont-
roverse nur aus der einen Perspektive überliefert ist – aus der Soma Morgensterns.
Soma Morgenstern wurde 1890 in dem ostgalizischen Dorf Budzanóv bei Tarno-
pol, einer geografisch wie symbolisch mit Brody, Roths Geburtsstadt, benachbarten
Stadt, geboren. In seinem dreibändigen Romanwerk Funken im Abgrund wird akri-
bisch genau die Welt des osteuropäischen Judentums geschildert, der religiöse Alltag,
die patriarchalischen Verhältnisse, der Aufbruch nach Westen und die intellektuellen
Debatten um den Zionismus. Dieses Romanwerk kann als der Versuch gelesen wer-
den, diese ostjüdische Welt im Medium der Literatur zu erinnern, als ein kulturelles
Archiv des Alltags, der Sitten und Mentalitäten, der intellektuellen Kontroversen und
des Kampfes um Identität. Der narrative Plot des Romans folgt der Logik des „Back
to the Roots“ und führt den jungen Alfred Mohylewski, Angehöriger des Wiener jü-
dischen Bürgertums, an die galizische Peripherie. Damit ist eine Strategie des Romans
benannt : die selbstbewusste Präsentation ostjüdischen Lebens im Medium des Ro-
mans mit unverkennbar autobiografischen Konnotationen. Es geht darum, wie es im
Gespräch des jungen Mannes mit seinem Onkel heißt, ein „Jude“ und nicht ein „Jud’“
zu sein : „Aber ich möchte nicht weiter ein Jud’ sein, so einer, der sich aus dem Apost-
roph, den man ihm als Schimpf gegeben hat, bestenfalls eine ironische Krücke macht,
mit der er durchs Leben humpelt. Ich will ein Jude sein, ein Jude mit einem ›e‹.“
Der Titel des ersten Romans macht die Identitätsproblematik im Roman deut-
lich. Alfred ist der Sohn eines verlorenen Sohnes, das heißt eines Menschen, dem die
Soma Morgenstern, Funken im Abgrund I : Der Sohn des verlorenen Sohnes, Lüneburg 1996, S. 91.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519