Page - 19 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Giften der Krankheit, mit Selbstmord und Fremdmord rotten sie es aus, das
junge Geschlecht: Leopardi, der edel-traurige, welkt in düsterm Siechtum,
Bellini, der Sänger der »Norma«, stirbt in magischem Beginn, Gribojedof,
den hellsten Geist des erwachenden Rußlands, erdolcht in Tiflis ein Perser.
Seinem Leichenwagen begegnet zufällig im Kaukasus Alexander Puschkin,
dies neue Genie Rußlands, sein geistiges Morgenrot. Doch er hat nicht lange
Zeit, den Frühgesunkenen zu beklagen, ein paar Jahre nur, und die Kugel trifft
ihn tödlich im Duell. Keiner von allen erreicht das vierzigste Jahr, die
wenigsten unter ihnen das dreißigste: so wird der rauschendste lyrische
Frühling, den Europa jemals gekannt, über Nacht geknickt, zerschmettert und
versprengt die heilige Schar der Jünglinge, die in allen Sprachen zugleich den
Hymnus der Natur und der seligen Welt gesungen. Einsam wie Merlin im
verzauberten Wald, unbewußt der Zeit, halb schon vergessen, halb schon
Legende, sitzt Goethe, der weise und greise, in Weimar: nur von diesen
uralten Lippen formt sich noch in seltener Stunde orphischer Gesang. Ahne
und Erbe zugleich des neuen Geschlechts, das er staunend überlebt, wahrt er
in eherner Urne das klingende Feuer.
Einer nur, ein einziger von der heiligen Schar, der reinste von allen, weilt
noch lange auf der entgötterten Erde, Hölderlin, doch an ihm hat das
Schicksal am seltsamsten getan. Noch blüht ihm die Lippe, noch tastet sein
alternder Leib sich über die deutsche Erde, noch gehen seine Blicke blau vom
Fenster hinüber in die geliebte Landschaft des Neckars, noch darf er die Lider
frommen Blicks zum »Vater Äther«, zum ewigen Himmel hin aufschlagen:
doch sein Sinn ist nicht mehr wach, sondern verwölkt in einen unendlichen
Traum. Wie Tiresias, den Seher, haben die eifersüchtigen Götter den, der sie
belauschte, nicht getötet, sondern ihm nur den Geist geblendet. Ein Schleier
ist um seine Worte und seine Seele gedunkelt: verworrenen Sinns lebt der »in
himmlische Gefangenschaft Verkaufte« noch dumpfe Jahrzehnte dahin, der
Welt wie sich selbst verloren, und nur der Rhythmus, die dumpfe klingende
Welle stürzt in zerstäubten, zerquellenden Lauten von seinem zuckenden
Mund. Um ihn blühen und welken seine geliebten Frühlinge, er zählt sie nicht
mehr. Um ihn sinken und sterben die Menschen, er weiß es nicht mehr.
Schiller und Goethe und Kant und Napoleon, die Götter seiner Jugend, sind
ihm längst vorausgegangen, brausende Bahnen durchqueren sein erträumtes
Germanien, Städte ballen, Länder heben sich auf – nichts von alldem erreicht
sein versonnenes Herz. Allmählich beginnt das Haar ihm zu grauen, ein
scheuer, gespenstiger Schatten einstiger Lieblichkeit, tappt er hin durch die
Straßen Tübingens, verspottet von den Kindern, verhöhnt von den Studenten,
die hinter der tragischen Larve den abgestorbenen Geist nicht ahnen, und
längst denkt kein Lebender seiner mehr. Einmal, in der Mitte des neuen
Jahrhunderts, hört die Bettina, daß er (einst von ihr wie ein Gott gegrüßt) sein
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199