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244 Konfliktdynamiken
Wie diese Strategie funktionierte, zeigt folgendes Beispiel: In der fast aus-
schließlich italienischsprachigen, west-istrianischen Küstenstadt Rovigno /
Rovinj ereignete sich Ende August 1908 ein großer Angriff antiklerikaler
Akteure auf die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der in der Stadt tagenden
Versammlung der italienischsprachigen, christlich-sozialen Partei.4 Beide
Seiten waren italienischsprachig. Die Klerikalen, die aus Triest und anderen
Ortschaften Istriens angereist waren, wurden angegriffen, verprügelt, einige
sogar an der Teilnahme gehindert.5 Die italienischsprachigen Liberalen stell-
ten die Aktion als Teil des »Nationalitätenkonfliktes« dar. In diesem Sinne
wurden die italienischsprachigen Klerikalen der »nationalen Indifferenz«,
des »Renegatentums« oder sogar der »südslawischen Sympathie« bezichtigt.
Die italienischsprachigen Liberalen beteuerten, dass die italienischsprachi-
gen Klerikalen in Rovigno / Rovinj einem südslawischen Reichsratsabgeord-
neten, Matko Laginja, sogar auf Kroatisch
– also mit »Živio«-Rufen
– zugeju-
belt hätten.6 Die italienischsprachige, klerikale Zeitung L´Amico wies jedoch
darauf hin, dass die italienischsprachigen Katholiken (das »Volk«) überzeugt
seien, »sich keine schlimmeren Herrscher als einige Signorotti [Herrschaf-
ten; Bezeichnung für die Liberalen – P. T.] geben zu können«.7 Die katholi-
sche Zeitung hob damit die Interessenskonflikte hervor, die nicht entlang der
nationalen Differenzen, sondern vielmehr vertikal innerhalb der italienisch-
sprachigen Öffentlichkeit vorlagen.
Der »Nationalitätenkonflikt« verschleierte einen Kampf um die Deutungs-
macht zwischen den politischen Seiten oder unter den gesellschaftlichen
Schichten. Nur diejenigen konnten den Nationalismus aktivieren, die die
politische Deutungshoheit dafür besaßen.8 Auf der ländlichen Ebene wollten
die südslawisch-nationalistischen Agitatoren die südslawischen Bewohner ob
ihrer nationalen Zugehörigkeit belehren, weil sich die ländliche Bevölkerung
dem Nationalismus, wie ihn sich die nationalistischen Agitatoren vorstellten,
nicht immer fügten. Daher wurden etwa die kroatischsprachigen Bauern in
Lika-Krbava oder in Drenova von den kroatischsprachigen Nationalisten der
»nationalen Indifferenz«, des »Verrates« (o.ä.) bezichtigt. Aber auch Priester,
die nicht nach den Vorstellungen nationalistischer Akteure handelten wie
4 Zu den Vorfällen siehe die Polizeiberichte sowie die Briefe des örtlichen Pfarrers, in:
AST, Luogotenenza, AP, b. 322, fasc. 10c, 1908/1505.
5 Protokolle über die Taten siehe in DAP, Općina Rovinj (Gemeinde Rovigno / Rovinj,
weiter: Rovinj), Opći Spisi (Allgemeine Schriften, weiter: Op.Sp.), kutija (kut.) 658,
No. 5210; No. 5238; No. 5283; No. 5314; No. 5352; No. 5363; No. 5376; No. 5379;
No. 5380; No. 5401; No. 5402; No. 5507; No. 5587.
6 Il Processo di Rovigno per I fatti del 30 agosto 1908. Supplemento al periodico
L’ Amico [Der Prozess von Rovigno / Rovinj wegen der Taten vom 30. August 1908.
Beiheft zur Zeitung L’ Amico], Trieste 1909, S. 82f.
7 Ebd., S. 109 [übersetzt aus dem Italienischen von mir].
8 Brubaker, Nationalism reframed, S. 17.
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Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Title
- Umkämpfte Kirche
- Subtitle
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Author
- Péter Techet
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Size
- 15.9 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303