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mit eine Anklage an den Staat für das Leiden und Sterben des italienischen
Volkes und beschwört die Souveränität, Solidarität und Zusammengehö-
rigkeit der Bürger:innen.
Zwischen Tod und Erlösung
Durch die mediale Verbreitung und die Verschmelzung des Wandbildes
mit seinen unzähligen Reproduktionen wird das Gra"ti in Bergamo zum
Sinnbild des gesamten ö!entlichen, nationalen Raums, das eine allgemei-
ne italienische Identität prägt. Dies ist umso bemerkenswerter, als der öf-
fentliche Raum in der Corona-Krise nur beschränkt zugänglich ist. Der
mediale Raum ersetzt in der Pandemie die begehbaren ö!entlichen Orte
der Gesellscha#. Somit macht das Kunstwerk das Krankenhaus und Berga-
mo zum symbolischen Ort der Corona-Krise, an dem sich das Schicksal
der italienischen Nation entscheidet. In dem Wandbild und seiner media-
len Verbreitung verschränken sich begehbarer und medialer ö!entlicher
Raum. Der begehbare wird in den medialen Raum eingebettet und der
mediale Raum dient zur Beanspruchung und Bedeutungszuschreibung des
begehbaren Raums. In der Folge verschwimmt im Foto-Gra"ti die Wahr-
nehmung der beiden Dimensionen des ö!entlichen Raums. Der nationale
Identitätsraum Italiens wird somit auf den medialen Raum ausgeweitet.
In diesem Kontext spielt die Mehrdeutigkeit des Bildes eine wesentliche
Rolle: Die Darstellung verbindet Schutz und Apokalypse, Leid und Trost,
drohenden Tod und Ho!nung auf Erlösung. Je nach Betrachtungsweise
rückt die eine oder die andere Bedeutung in den Vordergrund. Dabei kön-
nen Elemente des Kontextes die jeweiligen Deutungsweisen befördern.
Der Schri#zug, der Dank gegenüber dem Krankenhauspersonal zum Aus-
druck bringt sowie die fürsorgliche Handhaltung der Ärztin können den
Aspekt der Ho!nung unterstützen. Die Kleidung der Intensivstation und
die blutrote Farbe des italienischen Stiefels wiederum betonen Tod und
Leid. Im Wandbild sind vielfältige Bedeutungen angelegt. Ihre letztendli-
che Deutung liegt bei den Betrachtenden.
Das Gra"ti grei# auf ein christliches, gesellscha#lich geteiltes Bildreper-
toire zurück. Die Verweise auf religiöse Motive unterstützen die Deutun-
gen des Leidens und der Ho!nung Italiens im Horizont der christlichen
Heilsgeschichte. Das Leid und die Ho!nung Italiens sowie die gesamte Na-
tion werden dadurch in einen größeren und religiösen Bedeutungszusam-
menhang gestellt. Dadurch wird der Corona-Krise eine Art Sinnha#igkeit
zugeschrieben, indem die Anspielung auf die christliche Heilsgeschichte
dem Leid einen Sinn verleiht und Erlösung verspricht. Indem das Wand-
Leid und Ho"nung einer Nation im Gra#ti
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Titel
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Paradoxien einer Krise
- Autor
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Herausgeber
- Anna-Katharina Höpflinger
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 134
- Kategorien
- Coronavirus
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133