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«Menschenopfer für den Kapitalismus»
Der Titel von Assheuers Beitrag kündigt von Anfang an die Positionen,
mit denen er sich auseinandersetzt, an: Die grundlegenden Vorstellungen
von Vertretern des Kapitalismus sollen auf provokative Weise entlarvt wer-
den. Es stellt sich jedoch von Beginn an die Frage, ob der Begri! der Reli-
gion zutre!end ist, um diese Kapitalismuskritik zum Ausdruck zu bringen.
Kapitalismus als eine Form von Religion zu betrachten, ist nichts Neues.
Spannend ist jedoch, bei diesem Artikel herauszufinden, welche Züge des
Kapitalismus als religiös erfasst werden und welche Konnotationen damit
verbunden sind.
Religion und Kapitalismus sind zwei Phänomene, die auf den ersten
Blick nichts Gemeinsames haben: Kapitalismus ist ein wirtscha#liches Sys-
tem, das auf einer rationalen, auf Fakten ausgerichteten Lehre gründet und
mit statistischen Berechnungen erforscht werden kann. Religion hingegen
beschä#igt sich mit Dimensionen des Lebens, die die wahrnehmbare Welt
transzendieren, die weder beobachtet noch gemessen werden können. Die-
se pauschalen Zuordnungen sind jedoch irreführend.
Bei näherer Betrachtung verschwimmen nämlich solche fraglichen
Grenzen zwischen Kapitalismus und Religion. In Wirtscha#ssystemen,
auch im Kapitalismus, tauchen Parallelen zu dem auf, was in der Religi-
onswissenscha# als Religion bezeichnet werden kann. Beispielsweise lässt
sich ein Konzept wie «die unsichtbare Hand», die den Markt zugunsten
der Beteiligten kontrolliert, mit der Idee einer vorhersehenden Gottheit
vergleichen. In Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus veror-
tet Max Weber die Wurzeln des Kapitalismus im Protestantismus; damit
erklärt er den Erfolg dieses Wirtscha#smodells anhand eines konfessionell
begründeten Ethos. Auch Walter Benjamin hebt in den 1920er Jahre die
religiöse Bescha!enheit des Kapitalismus im Essay Kapitalismus als Religion
hervor. Dies sind nur zwei kurze Hinweise auf eine tiefgehende, langjähri-
ge Debatte, die sich mit den Verflechtungen dieser beiden Phänomene be-
schä#igt. Thomas Assheuer nimmt in seinem Artikel Positionen ins Visier,
die in verschiedenen Beiträgen in der Neuen Zürcher Zeitung im März und
April 2020 geäußert wurden. Ich will drei davon genauer anschauen.
«Wollt ihr denn ewig leben?»
Unter dem Titel Es ist die Frage, die die Absurdität mancher Notmaßnahmen
o"enbart: Wollt ihr denn ewig leben? kritisiert der Autor Georg Bindschedler
die zum damaligen Zeitpunkt ergri!enen Maßnahmen gegen das Virus.
Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Titel
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Paradoxien einer Krise
- Autor
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Herausgeber
- Anna-Katharina Höpflinger
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 134
- Kategorien
- Coronavirus
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133