Seite - 131 - in Religion, Medien und die Corona-Pandemie - Paradoxien einer Krise
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Geschichtlich virulent wurde «Unbehaustheit» durch das literarische
Werk von Hans Egon Holthusen. In den 1950er Jahren verö!entlichte er
eine Sammlung von Essays unter dem Titel Der unbehauste Mensch. Im
Nachkriegsdeutschland verarbeitete der umstrittene Autor die gesellscha#-
lich umwälzenden Erfahrungen des Nationalsozialismus und die damit
verbundene kollektive Orientierungslosigkeit eines ganzen Landes. Die
Metapher wurde dabei auf die historische Lebenserfahrung einer zerstör-
ten Welt bezogen. Transportiert wurde damit die kollektive Frage, wie sich
der Mensch in einer haltlosen und lebensfeindlichen Wirklichkeit zurecht-
finden kann.
Auf dieser Linie repräsentiert «Unbehaustheit» die Menschheit als eine
unklassifizierbare und hilflose Spezies, die zwischen Natur und Kultur ge-
fangen ist. Zur religiösen Rahmung dieser Metapher trugen weitere Texte
bei. So beschreibt sich Goethes Faust im gleichnamigen Werk als der «Un-
behauste». Damit wird Fausts Orientierungsbedür#igkeit betont; im Dia-
log mit Mephistopheles stilisiert er sich als den von Gott verlassenen
Flüchtling, der nach Orientierung und Führung sucht. Im Kontrast zur
wohlwollenden «Schöpfung» beschreibt «Unbehaustheit» die Lebenswirk-
lichkeit des Menschen als chaotisch und unkontrollierbar. In Meyers Arti-
kel wird diese religiös und literarisch aufgeladene historische Metapher
mit der Ho!nung auf eine gerechte postpandemische Welt verknüp#. Die
Anspielung auf die vermisste Geborgenheit evoziert ein religiöses Vertrau-
en auf eine eschatologische Wirklichkeit, in der der Mensch beheimatet
und behaust sein wird.
Die Metaphern der Pandemie
Absolute Metaphern haben innerhalb der Pandemie Hochkonjunktur. An
den von mir illustrierten Beispielen, aber auch an den zahlreichen Belegen
in den vorangegangenen Artikeln dieses Buches wird sichtbar, welche Auf-
gaben Metaphern innerhalb der Pandemie zukommen. Sie verhelfen uns
zur Orientierung in einer unübersichtlichen Erfahrung. Ihre transzendente
Dimension ermöglicht es, die pandemischen Ereignisse in einen Sinnhori-
zont zu situieren. Sie scha!en Bewältigung und Entlastung im Angesicht
der Krise. Spezifisch religiös konnotierte Metaphern erleichtern dies durch
ihre Anspielungen auf eine sinnha#e postpandemische Zukun#. Da sie
mit vorhandenen Bedeutungen arbeiten, sind sie verständlich: Sie appellie-
ren an das kulturelle Vorwissen der Rezipient:innen und steuern damit die
Lesbarkeit der Welt. Metaphern operieren als Propheten, die eine bessere
Welt ankündigen. Sie sind sprachliche Sinn- und Ho!nungsträger und
Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Titel
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Paradoxien einer Krise
- Autor
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Herausgeber
- Anna-Katharina Höpflinger
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 134
- Kategorien
- Coronavirus
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133