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Joch über gebeugtem Nacken trug und in seiner Zeit sich eingeschlossen
wähnte wie in einem sonnenlosen Kerker. Von außen her winkte keine
Erlösung, und Flucht war unmöglich.
Aber er sagte nichts, immer war er schweigsam gewesen, immer hatte er
die unsichtbare Hand vor seinen Lippen gefühlt, immer, als Knabe schon. Nur
das auswendig Gelernte, dessen Klang schon fertig und ein dutzendmal
lautlos geformt in seinen Ohren, seiner Kehle lag, konnte er sprechen. Er
mußte lange lernen, ehe die spröden Worte nachgiebig wurden und sich
seinem Gehirn einfügten. Erzählungen lernte er auswendig wie Gedichte, das
Bild der gedruckten Sätze stand vor seinem Auge, als sähe er sie im Buch,
darüber die Seitenzahl und am Rande die Nase, gekritzelt in müßigen
Viertelstunden.
Jede Stunde hatte ein fremdes Gesicht. Alles überraschte ihn. Jedes
Ereignis war schrecklich, nur weil es neu war, und verschwunden, ehe er es
sich eingeprägt hatte. Aus Furchtsamkeit lernte er Sorgfalt, wurde fleißig,
bereitete sich mit hartnäckiger Ruhelosigkeit vor, und wieder und wieder
entdeckte er, daß die Vorbereitung noch zu mangelhaft gewesen. Aber er
verzehnfachte seinen Eifer, brachte es bis zum zweiten Platz in der Schule.
Primus war der Jude Glaser, der leicht und lächelnd, von Büchern und Sorgen
unbeschwert, durch die Pausen strich, der in zwanzig Minuten den fehlerlosen
lateinischen Aufsatz ablieferte und in dessen Kopfe Vokabeln, Formeln,
Ausnahmen und unregelmäßige Verba zu wachsen schienen, ohne mühevoll
gezüchtet zu werden.
Der kleine Efrussi war Glaser so ähnlich, daß Theodor Mühe hatte, vor
dem Sohn des Juweliers Autorität zu bewahren. Theodor mußte eine leise,
hartnäckig aufsteigende Zaghaftigkeit unterdrücken, ehe er seinen Schüler
zurechtwies. Denn so sicher schrieb der junge Efrussi einen Fehler hin, so
selbstbewußt sprach er ihn aus, daß Theodor am Lehrbuch zu zweifeln und
seines Schülers Irrtum gelten zu lassen geneigt war. Und immer war es so
schon gewesen. Immer hatte Theodor der fremden Macht geglaubt, jeder
fremden, die ihm gegenüberstand. In der Armee nur war er glücklich. Was
man ihm sagte, mußte er glauben, und die andern mußten es, wenn er selbst
sprach. Theodor wäre gern sein Leben lang bei der Armee geblieben.
Anders war das Leben in Zivil, grausam, voller Tücke in unbekannten
Winkeln. Gab man sich Mühe, sie hatte keine Richtung, Kräfte
verschwendete man an Ungewisses, es war ein unaufhörliches Aufbauen von
Kartenhäusern, die ein geheimnisvoller Windzug umblies. Kein Streben
nutzte, kein Fleiß erlebte seine Belohnung. Kein Vorgesetzter war, dessen
Launen man erkunden, dessen Wünsche man erraten konnte. Alle waren
Vorgesetzte, alle Menschen in den Straßen, die Kollegen im Hörsaal, die
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92