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Eine Jüdin keucht unter der Last eines Soldaten. Sie liegt quer über dem
Bürgersteig. Eine alte Dame hinkt über die Straße. Lächerlich ihre Hast. Allzu
gering ihrer lahmen Füße Kraft. Sie hat das Gesicht einer Laufenden. Und
ihre Bewegung ist schleppend. Kinder kriechen im Schlamm. Sie tragen gelbe
Hemdchen, Blut sammelt sich an den Rändern. Fließt weiter mit dem
Regenwasser. Mit Pferdekot, Flaumfedern, Strohhalmen. Fließt den gierig
trinkenden Kanalgittern zu.
Weißbärtige Männer eilen mit wehenden Rockschößen. Jemand
umklammert Theodors Knie. Gnade winselt ein Mensch. Theodor schlenkert
mit dem Fuß. Der Flehende fliegt in einen Blutbach. Rot spritzt auf. Flammen
züngeln aus Fenstern. Rauch bricht aus berstenden Dächern. Männer mit
Eisenstangen rufen:
»Schlagt die Juden!«
Alle schlagen, alle werden geschlagen. Theodor zwischen allen steht. Er
sieht im Schlamm einen Kopf. Ein sterbendes Angesicht. Das Angesicht
Günthers. Theodor starrte darauf. Erhielt plötzlich einen schweren Schlag auf
den Kopf. Blut rann über seine Schläfe. Rote Räder kreisten. Er taumelte. Er
sah den Anführer. Sein wehendes Haar. Den fliegenden Stock. Theodor riß
die Pistole heraus. Der Mann sprang seitwärts. Er schwang seinen Stock.
Theodor sah sein weißes Angesicht. Noch hat er den Hahn nicht abgedrückt.
Schon fliegt ihm die Waffe aus der schmerzhaft getroffenen Hand. Nahe an
ihn tritt der Mann. Er sieht das Weiße der feindlichen Augen. Der Mann
schreit: »Du hast Günther getötet!«
Theodor flieht. Hinter sich hört er den heißen Atem seines Verfolgers. Auf
den Schultern lastet der Hauch des feindlichen Mundes. Hinter sich hört er
des Feindes eiligen Schritt. Auf lautlosen Sohlen läuft Theodor. Er läuft durch
stille, ausgebrannte, gestorbene Straßen. Er läuft durch eine fremde Welt. Er
läuft durch einen langen Traum. Er hört Schüsse, Trommeln, Wehgeschrei.
Alle Geräusche sind in die Schicht eines weichen, dämpfenden Stoffes
gebettet. Da kommt eine Biegung! Ist drüben die Rettung? Verdoppelt die
Hast! Verstärkt den Galopp, beflügelt den Fuß! Jetzt sieht er zurück. Kein
Verfolger ist hinter ihm. Er fällt auf eine Schwelle. Vor ihm liegt ein
verlorenes Gewehr. Er hebt es auf. Er rennt weiter. Die Toten leben! Er haßt
die Toten. Er gerät zwischen Soldaten. Jetzt erkennt er seine Leute. Fröhlicher
Zuruf begrüßt ihn. Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen. Er schmettert
die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt er mit den
Absätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden Hände. Er
nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.
Es wurde Abend. Feuchte Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg
der Ordnung.
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92