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Und Theodor glaubte, sich erinnern zu können, daß Trebitsch jüdisch
gesprochen hatte. Benjamin Lenz allein nahm Theodor aus. Er wußte nichts
Genaues über Lenz. Aber er wollte auch nichts wissen. Er ordnete Benjamin
Lenz unter seine Freunde, wie den jüdischen Journalisten Pisk.
Und immer, wenn er so vor seiner Frau gesprochen hatte, schwoll am
nächsten Morgen sein Zorn gegen die inneren Feinde, und er griff nach seiner
blutigen Arbeit mit fleißiger Wollust. Die Verhafteten, die vor ihm standen,
was wollten sie eigentlich in Deutschland? Gefielen ihnen die Zustände nicht,
weshalb blieben sie? Wanderten sie nicht aus? Nach Frankreich, Rußland,
Palästina? Er stellte diese Fragen an die Verhafteten. Einige sagten: »Weil
Deutschland meine Heimat ist.« – »Sind Sie deshalb ein Verräter?« fragte
Theodor. »Sie sind es selbst!« erwiderten sie. Sie waren froh, wenn man sich
mit ihnen auseinandersetzen wollte. Und sie büßten für ihre ungebührliche
Antwort auf der Stelle. Der Agent an ihrer Seite zerrieb die Knochen ihrer
Handgelenke.
Manchmal brachte man vor Theodor Blutiggeschlagene, rotes Blut rann
über ihre Gesichter. In Theodor flammte das alte rauschende Rot auf, rote
Sonnenräder kreisten vor seinem Auge, ein Jubel sang in ihm, Jubel hob ihn
hoch, er freute sich, war leicht und beschwingt.
Einer lebte, dessen Blut er sehen wollte, jener Mann, der ihn verfolgt hatte.
Noch sah Theodor das flackernde Haar des Mannes, sein weißes, hassendes
Angesicht, den hochgeschwungenen Arm; den Sang des niedersausenden
Stockes hörte er und fühlte Schmerz in der geschlagenen Hand. Noch lebte
der Mann, der Theodor feige gesehen hatte, ihn, Theodor Lohse, als
flüchtigen Feigling. Nach diesem Mann fahndeten alle Spitzel vergebens, sein
Versteck suchte man von allen Verhafteten zu erfahren. Bei jeder Meldung,
daß ein neuer Häftling angekommen, hoffte Theodor, auf die Spur seines
Feindes zu kommen. Die meisten folterte man vergeblich. Sie wußten nichts
oder verrieten nichts. Einige teilten Falsches mit. Und hielt man ihnen dann
ihre Lügen vor, so lachten sie. Oder sie hatten sich geirrt.
Nur von einem konnte Hoffnung kommen, von Lenz. Lenz kannte den
Mann.
»Es ist sozusagen Günthers Schwager«, erzählte Lenz. »Eine Art
Familienrache. Er will Sie umbringen. Aber ich glaube, ich bin auf seiner
Spur.«
Und immer wieder war es eine falsche Spur. Jeder Morgen brachte
Benjamins Besuch und neue Hoffnungen. Jeder Abend enttäuschende,
schmerzhafte Kunde.
Lenz beschrieb ihn genau. Er war der Bruder jenes Mädchens, das Günther
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Buch Das Spinnennetz"
Das Spinnennetz
- Titel
- Das Spinnennetz
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1923
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 93
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 10
- Kapitel 3 14
- Kapitel 4 17
- Kapitel 5 21
- Kapitel 6 24
- Kapitel 7 30
- Kapitel 8 32
- Kapitel 9 36
- Kapitel 10 39
- Kapitel 11 42
- Kapitel 12 44
- Kapitel 13 47
- Kapitel 14 50
- Kapitel 15 52
- Kapitel 16 54
- Kapitel 17 57
- Kapitel 18 59
- Kapitel 19 61
- Kapitel 20 64
- Kapitel 21 67
- Kapitel 22 69
- Kapitel 23 73
- Kapitel 24 76
- Kapitel 25 79
- Kapitel 26 81
- Kapitel 27 83
- Kapitel 28 86
- Kapitel 29 89
- Kapitel 30 92