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5. Die Liedgattungen
5. Die Liedgattungen
Jedes einzelne handgeschriebene Leichhüatbüchl dokumentiert neben den tradierten Liedern auch
persönliche Vorlieben der Schreiberin. So lässt das in Franz Schunkos Sammlung aus Petersbaum-
garten erhaltene Liederbüchl der „Schmiedemeistersgattin“ Marie Wöhrer den Einfluss aus Schullie-
derbüchern erkennen.
Etwa die Hälfte der zum Leichhüten im Wechselgebiet gesungenen Lieder zählen zu den Liedgat-
tungen Belehrende, Betrachtende, Andachts-, Bitt- oder Loblieder. Ein Drittel der verbleibenden Hälf-
te sind Abschieds-, Begräbnis- oder Grab-, Klage- und Passionslieder. Etwa 40 Morgen-, Abend- und
Trostlieder ergeben – gemeinsam mit den in etwa gleicher Verteilung erklingenden Verkündigungs-,
Buß-, Wallfahrts- und Rosenkranzliedern sowie einigen sozialkritischen Liedern, einem Stundenruf
und dem Totentanz – den verbleibenden Liedcorpus.
In allen […] Toten- und Sterbeliedern finden wir dieselbe eigentümliche Stilform […] des Zwiegesprächs
zwischen Leib und Seele oder die Klage der abgeschiedenen Seele über die Vergänglichkeit alles Irdi-
schen, die Nichtigkeit aller Erdenlust, wie sie auch auf Marterln und Grabinschriften anzutreffen ist.
(Jungwirth, S. 19)
Die meisten Lieder geben einen „freundlichen Ausblick nach oben, eine Zuversicht auf ein lichtes Wei-
terleben der Seele nach dem Tode in einem besseren Jenseits“. Jungwirth nennt das Lied „’S Krank-
sein ist ein harte Buß, weil man nicht weiß, wann man sterben muß“ als eines der wenigen Beispiele,
in welchem diese Erlösung fehlt, aufgezeichnet 1905 in Kirchham bei Ried62 (siehe Lied Nr. 21):
Ein altehrwürdiger, tiefsinniger Grabgesang! Einst vielleicht bei den Bräuchen der Leichenwachen […]
vielleicht auch als katholisches Kirchenlied bei Totenämtern gesungen.
(Jungwirth, S. 19)
Im beachtlichen Anteil der Betrachtenden und Belehrenden Lieder verbinden sich gereimte Lehrbei-
spiele mit naturbezogenen Motiven, welche vor dem Hintergrund der kirchlich gebundenen Glaubens-
vorstellungen bewusst oder unbewusst im Liedtext ausgedrückt sind. Der Lauf der Sonne wird zum
Vorbild für die zur Seligkeit strebende Seele. Im Angesicht des Todes will sich der gläubige Mensch
von seinen Sünden befreien; im Spiegelbild der Lilie als Symbol der Keuschheit soll dies geschehen.
Das Symbolträchtige in Laub, Wald und Baum findet sich in einer Fülle von poesievollen Zeilen.
Maria, die Mutter Gottes, wird nicht nur als „Baum des Lebens“ angerufen, sondern auch als Helferin
in letzter Not besungen. Die „Früchte des Feigenbaumes“ werden Vorbild für die „würdigen Früchte
der Buße“ und mit den christlichen Tugenden „Glaube, Liebe und Hoffnung“ wird der belehrende
Charakter der Lieder unterstrichen. Die Vergänglichkeit des Lebens ist als Motiv in fast allen Lie-
dern zu finden; in den Abschiedsliedern ist sie das Hauptthema. Wortwahl und Reimform sowie die
besungenen Themen und Motive lassen auf Verfasser aus Kreisen der Lehrer- und Priesterschaft
schließen. Durch mündliche Weitergabe und die Niederschrift bäuerlicher Hände entspricht die Spra-
che der Lieder jedoch nur selten dem Original. Dieses von den Sängern aus unterschiedlichen Quellen
angeeignete Liedgut stand im Dienst eines Brauches abseits jeglicher Bindung zum liturgisch appro-
bierten Kirchenlied. Was 1835 der „öffentliche Lehrer des Generalbasses und des Kirchengesanges in
Gratz“ August Duk im Vorwort seiner Sammlung „Kirchenlieder, welche in der Fürst-Bischöflichen
62 Ernst Jungwirth: Alte Lieder aus dem Innviertel mit ihren Singweisen (= Kleine Quellenausgabe 1), Wien 1925, S. 17–19,
Nr. 1, „Sterbe-Lied“.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: Leichhüatlieder, bäuerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das Begräbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hüat- / Leichwåcht-Liadln – Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register für das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der Liedanfänge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- Sängerinnen, Sänger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640