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Johannes Leopold Mayer
Irdische Lieder für ’s ewige Leben – gesungen
„sub specie pietatis austriacae“
Ein religiös denkender und fühlender Mensch erlebt Phänomene als folgerichtig und demnach logisch
zusammengehörig, welche einem nicht religiösen Menschen als völlig zusammenhanglos erscheinen
können – aus seiner Sicht durchaus ebenso logisch.
Im religiösen Denken und Fühlen konstituiert sich durch die Zusammenhänge – wie es der Philo-
soph Ludwig Wittgenstein trefflich nennt – ein „Zustand des sich Auskennens“.115 Dieser Zustand ist
aber nicht statisch in der Hinsicht, dass er etwas Abgeschlossenes sei. Vielmehr im Gegenteil: Wohl-
begründete Lebendigkeit – wohlbegründet etwa durch einen religiösen Glauben – ist Voraussetzung
für – um folgerichtig wieder auf Wittgenstein zurückzugreifen – das Evidentwerden des „allerdings
Unaussprechlichen. Dieses zeigt sich, es ist das Mystische.“116
Wie immer der forschende Mensch dieser Evidenz eines Mystischen aufgrund seiner persönlichen
Weltsicht, seines vorhandenen oder nicht vorhandenen religiösen Glaubens gegenüberstehen mag:
diesen „Zustand des sich Auskennens“, welchen er bei den von ihm forscherisch betrachteten religiös
denkenden, fĂĽhlenden und handelnden Menschen feststellt, den kann er als solchen nur begreifen,
wenn er ihn als ein grundlegendes Factum zur Kenntnis nimmt. Darauf weist – gerade im Zusam-
menhang mit fremdem oder fremd gewordenem und daher fürs Erste unverständlichem gläubigen
Denken und Verhalten – der große Religionsphilosoph und -historiker Mircea Eliade so nachhaltig
wie – im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis – pragmatisch hin. „Wenn es darum geht, ein fremdes
Verhalten zu verstehen, bringt es nichts ein, es zu entmystifizieren.“117 Das bedeutet demnach, dass
die Evidenz des Mystischen durch dessen sich Zeigen im Zustand des sich Auskennens genau in dieser
Konfiguration Betrachtung der Forschung sein muss, soll ein dem Forschungsgegenstand angemesse-
nes, weil verstehendes Ergebnis erzielt werden.
Diese Maxime hat der bedeutende österreichische Historiker Michael Mitterauer auch für die Ge-
schichtswissenschaft – konkret deren Teilgebiete, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – fruchtbar
gemacht. Im Sinne eines wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnes – so stellt er fest – ist es notwendig,
„das Heilige vom Profanen nicht abzugrenzen“, sondern es zu betrachten „in seiner besonderen Wirk-
kraft auf Lebenswelten, in die es eingeordnet ist“.118
In welchem Raum, der als der Zustand des sich Auskennens von den sich darin Befindlichen und
an ihm gewissermaĂźen Beteiligten als solcher wahrgenommen wird, erleben demnach die Lieder zur
Totenwache aus dem niederösterreichischen und steirischen Wechselgebiet ihren Vollzug?
115 Ludwig Wittgenstein: Letzte Schriften ĂĽber die Philosophie der Psychologie. Werkausgabe Band 7. Frankfurt/Main,
Suhrkamp, 1984, S. 337. Ludwig Wittgenstein (Wien 1889 – 1951 Cambridge) – u. a. Lehrer in Trattenbach und Otterthal,
Philosoph.
116 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1984, S. 85.
117 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Frankfurt/Main, Insel, 1984, S. 8. Mircea Eliade (Bukarest 1907–1986 Chicago) – rumänischer Religionswissenschafter,
Philosoph und Schriftsteller.
118 Michael Mitterauer: Dimensionen des Heiligen. Annäherungen eines Historikers. Wien, Böhlau, 2007, S. 7. Michael Mit-
terauer (*Wien 1937) – Wirtschafts- und Sozialhistoriker, Universität Wien.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: Leichhüatlieder, bäuerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- AbkĂĽrzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das Begräbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hüat- / Leichwåcht-Liadln – Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register für das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der Liedanfänge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- Sängerinnen, Sänger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640