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Der Totenbrauch
1. Die Totenwache
Der Tod ist für die Menschen in den Märkten, Dörfern, Streusiedlungen und Einzelgehöften des Wech-
selgebietes Teil ihres in die Natur eingebundenen Lebens. Vom Dahinscheiden eines Nachbarn, des
eigenen Kindes oder eines Elternteiles sind alle, welche im Umkreis des Verstorbenen leben, betrof-
fen. Der von Pfarrer Schänzl 1880 in der Pfarrchronik von Schäffern geschilderte Totenbrauch hat
sich im Wechselgebiet bis zur Errichtung der Aufbahrungshallen in den Dörfern und Märkten in den
Jahren zwischen 1960 und 1975 erhalten; wenn auch mit einigen Veränderungen in gewissen Ab-
folgen der Handlungen, der Gebete und der Lieder.
Eines der Familienmitglieder geht zeitlich in der Früh, noch vor der nächsten Messe […] zum Pfarrer,
ihm den eingetretenen Tod zu melden. Dies ist das Leichenansagen, „is Laichtåunsågn“. Nach der Mes-
se läßt dann der Pfarrer für den Verstorbenen das „Zügenglöcklein“ läuten. Dies ist eine eigene, kleine
Glocke im Kirchenturm, mit fein-traurigem Klange […] Sobald das „Ziigngleiggarl“ ertönt, beten die
Leute „wo sie gerade stehen oder gehen“, bei der Arbeit im Felde, wie im Wirtshaus für den Verstorbenen
gewöhnlich einen Vaterunser und zum Schlusse sagen sie:
„O Herr nimm ihn auf in Frieden!“ […]
Durch einen anderen Boten werden die Nachbarn, die Verwandten und „Göden“ (Paten) zum Leichen-
begängnis eingeladen. […]
(Ernst Hamza: Volkskundliches aus dem niederösterreichischen Wechselgebiet. Tod.
In: Unsere Heimat. Monatsblatt des Vereins fĂĽr Landeskunde und Heimatschutz
von Niederösterreich und Wien, NF IX/11, Wien 1936, S. 304–307)
Um 1960 wurde die persönliche Einladung zur Totenwache und zum Totenmahl – das sogenannte
„Einsagen“ (Informieren) – vom Parte-Zettel abgelöst, der in den Städten schon lange zum Beerdi-
gungsritus gehörte. Das Läuten des hellen „Zügenglöckleins“ kündete vom Tod eines Dorfbewohners
und erreichte durch seine hohe Klangfrequenz auch die weiter entfernten und weit verstreuten Bau-
ernhöfe. Nach einer ungeschriebenen Regel wurde für einen Mann das Läuten zweimal unterbrochen
„å(b)gsetzt“, bei einer Frau einmal, bei einem Kind läutete man ohne Unterbrechung.36 Diese aus dem
Glockenklang unterscheidbare Mitteilung gibt es heute noch. So erklingt beispielsweise in Dechants-
kirchen beim Tod eines Kindes die kleinste Glocke, beim Tod einer Frau die mittlere und beim Tod
eines Mannes die größte Glocke zwei Minuten lang vor dem „üblichen“ Geläut:
Das Geläut der Glocken ist das Flüstern Gottes in dieser Welt.37
Der Verstorbene blieb bis zum Begräbnis – drei Tage und zwei Nächte lang – in der Hausstube aufge-
bahrt, wo das „Sölnloch“38 – die mit einem Brettchen vernagelte Öffnung unter dem Stuben-Durchzug
– zum Anlass der Totenwache geöffnet war. Pfarrer Schänzl schreibt dazu Folgendes:
Die Männlichen und schon Erwachsenen werden mit Hemd, schwarzem Halstuch, Beinkleid, Weste,
FuĂźsocken, bekleidet, jedoch die FĂĽĂźe ohne Schuhe oder Stiefel gelassen, und in Ermanglung von FuĂź-
socken werden die FĂĽĂźe mit einem weiĂźen Tuche umhĂĽllt; die weiblichen Leichen auch Erwachsener
36 Franz Schunko: Leichhüatn in Petersbaumgarten. Totenbräuche im niederösterreichischen Wechselgebiet. Manuskript
1951, NĂ–VLA, A 368 / A. Siehe beiliegende CD I, track 1 (Sterbeglocke Petersbaumgarten).
37 Waltraud Schwammer, Bürgermeisterin von Dechantskirchen, anlässlich der Einweihung der neuen Glocken. In: Pfarr-
blatt der Pfarre Dechantskirchen, Advent 2011.
38 Dies sollte der Seele die Möglichkeit geben, himmelwärts zu fahren. Die Wirklichkeit war, vor allem im Sommer, vermut-
lich profaner: Lüftung. Die meisten der aus Holz gezimmerten Höfe (zerstört durch Abriss oder Brand) sind heute durch
gemauerte Gebäude ersetzt, und damit ist das „Sölnloch“ ebenso verschwunden wie das „Hungerloch“, die Durchreiche
zwischen Küche und Stube, und das „Weihbrunnloch“ an der Außenseite der Kirche. Siehe Sieder 1, S. 132.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: Leichhüatlieder, bäuerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- AbkĂĽrzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das Begräbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hüat- / Leichwåcht-Liadln – Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register für das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der Liedanfänge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- Sängerinnen, Sänger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640