Seite - 30 - in Zipper und sein Vater
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Sie raufte sich die Haare. Zum erstenmal sah ich Blut in ihr Gesicht
steigen. Sie wurde schön. Zum erstenmal nach zwanzig Jahren wurde sie
wieder schön.
Da schwieg Zipper. Arnold meldete sich nicht, und der Alte meldete sich
auch nicht.
Aber jedesmal, sooft ich mit dem Herrn Zipper zusammentraf, hielt er
folgenden Vortrag:
»Wir ziehen uns zurück, wir lassen die galizische Ebene den Russen. Wir
teilen uns, wir werden zwei Fronten bilden. Vom Norden und vom Süden
werden wir die Russen packen, verstehen Sie, in einer Zange!« Er krümmte
Zeige- und Mittelfinger, spreizte sie und schloß sie wieder. »Indessen wird im
Westen Paris erobert. Die Franzosen unterwerfen sich, denn wenn sie noch
länger warten, werden sie im Süden von Italien angegriffen. Dann wirft
Wilhelm die ganze Armee nach dem Osten. In drei Monaten ist der Zar
vernichtet. Die ganze Kunst besteht heutzutage darin, den Feind zu
umzingeln. Mit möglichst wenig Truppenmaterial umzingeln! Außerdem muß
man die richtige Balance halten zwischen Offensive und Defensive.«
Jeden Tag las Zipper alle Zeitungen. Er vernachlässigte sogar das
Sechsundsechzig. In seinem Stammcafé war er einer der glühendsten
Patrioten. Einige begannen sich über ihn lustig zu machen. Er wurde wild. Er
drohte, den und jenen anzuzeigen. Man zog sich zurück. Die Zweifler grüßte
er nicht. Mit seiner Frau sprach er nicht mehr. Auch seine kleinen Scherze gab
er auf. Wie lange war es schon her, seitdem er seinen Chronometer hatte
läuten lassen! Wie lange war es her, seitdem er zum letztenmal im Zirkus
gewesen war! Nur in die Theater ging er noch. Selbst seine einflußreichen
Freunde vernachlässigte er, Polizeiinspektoren verachtete er. Was taten sie?
Sie blieben zu Hause. Sie drückten sich! Sie »tachinierten«!
Der Sekretär war eingerückt, zur Feldpost. Seine seltenen Karten waren
Zippers abendliche Zerstreuung:
»Ich bin neugierig, wo diese Feldpost 106 steckt! Das ist doch ein kluges
System. Nur Nummern – und die drüben wissen schon, wo es hingehört. Und
dabei geht sicher nichts verloren. Organisation ist eine großartige Sache. Nie
hat die Post im Frieden so gut funktioniert!«
Der Salon stand leer. Frau Zipper hängte einen Zettel an das Haustor:
Zimmer für soliden Herrn zu vermieten. Herr Zipper entfernte den Zettel
wieder. Er trat mit ihm am Abend ins Haus, hielt ihn mit zwei Fingerspitzen
hoch, wie ein ekelhaftes Gewürm, und sagte:
»Meine Frau hängt gerade jetzt den Zettel heraus! Jetzt sucht sie, erstens,
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Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110