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Hof, hat Gitter vor den Scheiben, auf der anderen Seite sind auch Büros, der
Hof ist langweilig sauber, es ist streng verboten, Papierschnitzel, Asche,
Zigaretten hinunterzuwerfen. Aber der Tisch des andern Beamten, der in der
Nähe des zweiten Fensters sitzt, muß in gerader Linie mit meinem stehen. Ich
war fünf Minuten draußen. Als ich zurückkam, stand mein Schreibtisch
wieder dort, wo er vorher gestanden war. Die beiden Alten haben ihn
zurückgeschoben.
Sie haben Seife, Nagelbürste und Handtücher im Schrank. Sie waschen
sich die Hände, bevor sie weggehen. Ich kann mir dort nicht die Hände
waschen. Ich bin froh, wenn ich fort bin, ich gehe mit schmutzigen Händen
nach Hause. Infolgedessen kann ich das Amt früher verlassen als die beiden.
Ich sage ›Guten Abend!‹ – sie antworten nicht. Ich gehe weg. Von der Stiege
ruft einer: ›Herr Zipper!‹ – Was ist los? – Ich soll den Schlüssel morgen früh
nicht beim Portier, sondern auf Zimmer 25 im zweiten Stock abholen, wenn
ich zufällig früher kommen sollte. Der Dienst beginnt um neun Uhr. Ich
komme fünf Minuten vor neun. Die beiden sind schon da. Einmal versuche
ich, um dreiviertel neun zu kommen. Am nächsten Tag sind sie schon um halb
neun im Amt.
Ich habe dienstlich nichts mit ihnen zu tun. Sie sind nicht meine
Vorgesetzten. Aber wenn ich mit einem Schriftstück fertig bin, kommt immer
einer von den beiden zu meinem Schreibtisch und sagt: ›Sehr schön, Herr
Zipper.‹ Sie wagen nicht, mich zu tadeln, aber sie haben eine tückische
Methode gefunden: sie demütigen mich durch Lob. Manchmal beginnen sie
ein allgemeines Gespräch über die Jugend von heute. Jeder junge Mann
glaube, weil er im Krieg gewesen sei, er sei klüger als die Alten. Einmal
konnte ich mich nicht enthalten, ihnen zu sagen: ›Ihr habt uns ja selbst in den
Krieg geschickt!‹ Und ich dachte dabei an meinen Vater. Erinnerst du dich,
wie er eines Tages in der Uniform vor der Einjährigenschule stand? Übrigens,
mein Vater: ich kann gar nicht mehr zu Hause essen. Er hat tausend Fragen.
Immer will er wissen, ob man mit mir zufrieden ist. Ich muß ihm ganz genau
von meiner täglichen Arbeit berichten. Er bildet sich ein, ich verfaßte
Steuergesetze. Ich aber, weißt du, was ich mache? Additionen und Divisionen
und Multiplikationen mit Dezimalbrüchen.
Es ist nicht zum Aushalten! Ich möchte etwas anderes suchen. Aber wenn
ich mit dieser Arbeit fertig bin, möchte ich so schnell wie möglich zu Hause
sein. Es geht eine Straßenbahn um sechs Uhr zwölf und die nächste um sechs
Uhr zwanzig. Oft kommt es vor, daß mir einer der beiden Alten noch
etwas Gleichgültiges ganz langsam sagt – wenn ich unten bin, muß ich acht
Minuten auf die Bahn warten. Diese acht Minuten sind länger als der ganze
Tag.
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110