Seite - 52 - in Zipper und sein Vater
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im Finstern lacht. Ich greife geradeaus und fühle ihre Brust, bin erschrocken,
ziehe die Hand zurück, da läuft sie davon.
Am nächsten Morgen treffen wir uns im Park, und es ist so, als ob gestern
die Nacht gar nicht gewesen wäre. Wir suchen wieder Hirschkäfer.
Einmal sah ich, wie ein älterer Herr auf der Kurpromenade sie anschaut.
Dann will sie wieder zurück, obwohl wir auf dem Weg zur Wiese waren. Sie
sagt, sie möchte ein Konzertprogramm sehen. Vor dem Pavillon, wo die
Musik spielt, steht der Herr, und Erna lacht. Er kneift ein Auge zu, sie wird
rot. Ich glaube, daß ich mich in diesem Augenblick verliebt habe. Ich kann
nicht mehr so mit Erna spielen. Ich versuchte immer, mit ihr in der
Dunkelheit auf die ›Gloriette‹ zu gehen, ich brenne danach, noch einmal ihre
Brust zu berühren. Aber es gelingt nie mehr wieder.
Einmal war Fest im Kursalon. Ich stand da und sah, wie sie mit Offizieren
tanzte. Am nächsten Tag wurde sie von vielen Herren gegrüßt. Sie war auch
schon verändert. Sie hüpfte nicht mehr über die Straße wie gestern noch, sie
ging wie eine Dame. Kam sie an einen Bach, in den sie früher oft mit den
Schuhen gestiegen war, so blieb sie einen Moment stehen, ehe sie sich
entschloß, ihm auszuweichen, die schmalste Stelle zu suchen. Dann mußte ich
zuerst hinüber und ihr die Hand reichen. Ich liebte sie, ich hatte schlaflose
Nächte. Dann fuhren wir weg. Ich war eifersüchtig, gekränkt, gedemütigt, ich
haßte meine Eltern, weil sie kein Geld hatten. Ich träumte mir banale
Geschichten zurecht. Ein Waisenhaus brennt, ich rette alle Kinder, mein
Name steht in der Zeitung, sie kommt zu mir und bittet mich um Verzeihung
und sagt: ›Du kannst meine Brust berühren, wenn du willst.‹
Dann, nach den Ferien, sah ich sie wieder. Wir sprachen aber nicht mehr
miteinander, obwohl ich ihr oft nachging bis zum Haus und sie es gesehen
haben muß.«
»Und was macht sie jetzt?«
»Man sagte mir, sie hätte sich im Krieg verlobt, die Verlobung sei dann
zurückgegangen. Erna ist jetzt in der Schauspielschule, sie will Schauspielerin
werden. Ich glaube, sie hat recht, wenn ich mich erinnere, wie sie in der
Dunkelheit lachen konnte.«
»Wie lang habt ihr euch nicht gesehen?«
»Es werden zehn Jahre her sein. Ich weiß nicht, ob ich sie wiedererkenne.«
An diesem Abend begleiteten wir einander nicht mehr nach Haus. Es war
eine kühle und neblige Nacht. Arnold verabschiedete sich sehr schnell. Es
schien mir, daß er sich schämte.
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110