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Beifall. Wenn sie vom Spiel aufstanden, verließ Arnold nur zögernd den
Tisch. Es tat ihm offensichtlich leid. Er fühlte sich leer. Er mußte jetzt zu
einem anderen Tisch gehen, man spielte dort nicht mehr, man sprach nur, und
ein Gespräch war lange nicht so übersichtlich. Außerdem war er an einem
Tisch, an dem man nur sprach, mehr fremd als an einem, an dem man spielte.
Denn verlangten die Gesetze des Kartenspiels geradezu einen Kiebitz, so
waren die Gesetze einer Unterhaltung einem Außenseiter nicht hold. Arnolds
hellhörige Empfindlichkeit erriet hundertmal die Frage, die sich viele stellten
und die niemand aussprach: Was macht eigentlich dieser Zipper hier? Denn
man wußte, daß er nicht malte, nicht schrieb und nicht komponierte, aber alle,
die malten, schrieben und komponierten, kannten Zipper. Er beschäftigte sich
nicht einmal mit der Politik, die ebenso wie die Tätigkeit in einer Redaktion
jeden Gast in diesem Kaffeehaus heimisch machte. Dennoch gehörte Arnold
in dieses Kaffeehaus und in kein anderes. Er ging unter den Schriftstellern
herum – die immer auf der Jagd nach einem »Thema« waren – wie ein
Romanstoff, der sich umsonst anbietet. Die Schriftsteller aber sind nicht
geneigt zu glauben, daß ein Kiebitz literarisch brauchbar sein kann.
Sie gewöhnten sich an Zipper. Jeder hatte sich die Frage, was er eigentlich
hier mache, schon so oft gestellt, daß er schließlich der Meinung war, er hätte
schon eine Antwort auf sie gefunden. Es gefiel ihnen, einen Menschen in der
Nähe zu haben, der nicht vom Fach war, aber dem Fach immerhin so nahe,
daß man nichts übersetzen mußte, um ihm verständlich zu sein. Auch wenn
sie sprachen, war er ihr Publikum. Und da sie mehr sprachen, als sie
schrieben, war ihnen ein Leser, der zuhörte, von Nutzen.
Und Arnold hörte zu. Das Kaffeehaus lockte ihn jeden Abend, wie das
Gasthaus einen Trinker, wie der Spielsaal einen Spieler. Er konnte nicht mehr
leben ohne den regelmäßigen Anblick der kleinen, weißen, runden und der
viereckigen grünen Tische; der dicken Säulen, die einmal in der ersten Jugend
dieses Kaffeehauses seinen prunkvollen, majestätischen Charakter betont
haben mochten, die heute schwarz von Rauch waren, gleichsam von
jahrzehntelangen Opferbränden, und an denen Zeitungen hingen wie dürre
Früchte in dürren, gelben, klappernden Rahmen; der dunklen Nischen,
beschattet von Überkleidern an schwerbehängten Ständern; der Toilette im
Korridor, vor der ein ständiges Kommen und Gehen war, vor der man
Bekannte traf und begrüßte und vor der man, ohne zu merken, wie die Zeit
verstrich, eine halbe Stunde stehen konnte; der blonden Kassierin am Büfett,
die jeden beim Namen kannte und die den Stammgästen die Post verteilte,
während sie Briefe und Karten, die für die gewöhnliche »Laufkundschaft«
gekommen waren, in einer unpersönlichen, dienstlich kühlen Vitrine
ausstellte; der Kellner, die niemals wechselten, niemals starben, niemals nach
den Wünschen der Gäste fragten, sondern immer das Gewohnte brachten; der
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110