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(vorausgesetzt, daß sie nur halb soviel von Frauen verstünden wie vom
Theater) – erkennen, daß es einen unerklärlichen Widerspruch gab zwischen
der Sprödigkeit, mit der sie jeden Augenblick zu zerbrechen drohte, und der
schlangenhaften, gespannten, fast muskulösen Elastizität, mit der sie ihren
Körper, ihre Arme, ihren Hals bewegte. Sie schlug die Augen im Dialog auf
wie im Gebet. Aber es mußte doch schließlich auffallen, daß dieser Blick, der
ewig zum Himmel gewandt war, auch wenn es im Text hieß: »Ein Glas
Wasser, bitte!«, aus einer großen Gleichgültigkeit kam, aus der Seele eines
Menschen, der den Himmel mit einem Gartenzaun verwechseln konnte. Man
mußte doch hören, daß die Gabe, immer flehen zu können, die Fähigkeit des
Betens ausschloß! Man mußte schließlich erkennen, daß diese Eleganz, die
die Gattinnen der Fleischermeister betörte, aus einer Art didaktischer
Überlegung kam und nicht zwecklos war wie das Spiel selbst, sondern es
unterstützen und den Zuschauer belehren sollte.
Arnold saß, obwohl wir nahe genug der Bühne waren, mit dem Opernglas
da, es schien eine natürliche Fortsetzung seiner Augen zu sein. »Sie ist nicht
zufrieden«, sagte er mir, »wenn ich sie ohne Glas betrachte. Sie sagt, mein
nacktes Auge könnte ihr Unglück bringen. Ich sehe nicht durchs Opernglas,
um sie besser zu beobachten, sondern um ihr nicht mein Gesicht zu zeigen.«
Ich aber ahnte, ja, ich glaubte es zu wissen, daß Erna nicht das Auge
fürchtete; daß es ihr daran lag, von Arnold deutlich gesehen zu werden,
deutlich und unerreichbar, und seine Phantasie zu entzünden durch eine
vorgetäuschte Nähe, die auf Distanz nicht zu verzichten brauchte. Auch
erkannte ich wohl an Arnold, daß er litt, indem er so nahe sah, was ihm zu
halten nicht möglich war.
Warum aber plagte sie ihn? Ich fand keine Antwort, ich finde sie auch
heute nicht. Ich glaube, daß Erna von der Qual Arnolds lebte, daß sie den
Schmerz des Liebenden brauchte wie andere Frauen den Liebenden allein. Es
ist nicht wahr, daß es Frauen gibt, die zwecklos quälen. Sie brauchen die Qual
des andern wie ein Heil- oder wie ein Schönheitsmittel. Auch glaube ich, daß
die abergläubischen Methoden, deren sich Schauspielerinnen so gerne
bedienen, nicht aus einer reinen Furcht kommen, sondern einen vernünftigen
Grund haben und einen überlegten Zweck verhüllen, wie es der Aberglaube
Ernas tat.
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110