Seite - 107 - in Zipper und sein Vater
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»Oh, sehen Sie!« sprach P. weiter. »Sehen Sie dieses Gesicht! Dieses
Gesicht hat zwanzigtausend Ohrfeigen bekommen. Es hat eine hündische
Trauer. Es ist so traurig, weil es nicht erzählen kann, wie traurig es ist.
Denken Sie an seinen Auftritt. Er kommt auf die Bühne, ahnungslos, er weiß
nicht, daß im Parkett das Publikum sitzt. Er ist ein Trottel, er sieht aus wie
einer, der nur Essen und Trinken nötig hat, um frohgelaunt zu sein. Er will ein
Stück auf der Geige spielen. Aber sobald er spielen will, kommt ein anderer
Clown, ein selbstbewußter, auch ein Narr, aber ein Narr mit Ambitionen, ein
Narr, der bereits weiß, daß es ein Publikum gibt, einen Direktor, eine Gage.
Dieser kluge Narr gibt unserm Arnold eine Ohrfeige. Arnold hatte gerade
zwei Bogenstriche gemacht. Aber diese zwei Töne, die er noch hervorbringt,
bevor es der andere merkt, sind so klar, so himmlisch, daß es jedem Zuhörer
leid tut, daß Arnold nicht weiterspielt. Kennen Sie das? Natürlich. Sie haben
es schon gesehen, und nun wissen Sie, daß Arnolds musikalisches Talent
gerade noch dazu reicht, diese zwei Töne himmlisch zu spielen.
Das ist der Roman!«
»Ich sehe«, sagte ich, »nichts Romanhaftes darin. – Selbst wenn ich das
Leben Arnolds schreiben würde, wäre es kein Roman in diesem Sinn. Ich
muß Ihnen übrigens den Vorwurf machen, daß mir dieser Schluß ein bißchen
gewollt vorkommt. Ich würde Arnold im Kaffeehaus Sologeiger bleiben
lassen. Ich würde ihn auch nicht gesondert von seinem Vater behandeln
können.«
»Da haben Sie recht!« rief P. »Die Zippers gehören zusammen. Betrachten
Sie diesen Vater. Er ist an Arnolds Unglück schuld, für den Fall, daß Arnold
immer noch unglücklich ist. (Aber das wäre Nebensache.) Alle unsere Väter
sind an unserem Unglück schuld. Das sind die Väter der Generation, die den
Krieg gemacht hat. Sie haben ihre Uhrketten, ihre Eheringe für Eisen
gegeben. Ach, was waren sie für Patrioten! Meinem Vater hat nichts so leid
getan wie meine Krankheit, die mich gehindert hat, in den Krieg zu gehen.
Erinnern Sie sich nur: wer hat im Sommer 1914 vor der serbischen
Gesandtschaft protestiert: wir oder unsere Väter? Wer hat die Feinde –
allerdings im Kasino – ›umzingelt‹? Am Nachmittag, beim
Sechsundsechzig? Sie sind wie ein Ochs verladen worden, und Ihr Vater hat
der Mutter gesagt: ›Eine jede Kugel trifft ja nicht.‹ Wenn Ihr Vater auch
eingerückt ist, hat er höchstens eine Brücke bei Floridsdorf bewacht.
Erinnern Sie sich nur: Sie kamen zurück, die unseligste aller Generationen
der Neuzeit. Was war geschehen? Ihr Vater hat Zeit gehabt, neue Kinder zu
zeugen, mit den Mädchen, die eigentlich für Sie bestimmt waren. Kaum
waren Sie zu Hause, da saßen die Väter schon wieder dort, wo sie den Krieg
angefangen hatten. Sie machten die Zeitungen, die öffentliche Meinung, die
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110