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Von Kunst und Künstlichkeit#

Plastik, derzeit Gegenstand hitziger Polit-Debatten, ist auch ein prägender Faktor der modernen Kultur#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 19. Februar 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Christoph Irrgeher


  • Von der Euphorie für Plastik in den 60er Jahren bis zum getarnten Kunststoff der Öko-Ära.
  • Großer Produktkreislauf könnte unverrottbaren Müll deutlich reduzieren.

Zeitzeugen aus Plastik
Zeitzeugen: Telefon(1936) und Spielzeugauto (1940) aus Phenolharz, Stehpuppe aus Zelluloid (1953), Lampe aus Plexiglas (1967), Radio aus Polystyrol (1969),Polyester-Sessel (1964).Foto: Kunststoffmuseumsverein

"All unsere Bemühungen reichen nicht einmal hin, das Nest des geringsten Vögelchens nachzuahmen, (.. .) das Gewebe einer armseligen Spinne", rügte Michel de Montaigne einst die Selbstherrlichkeit des Menschen. Es gezieme sich nicht, so der Renaissance-Mann, dass die Technik "unserer großen und mächtigen Mutter Natur die Ehre streitig mache".

Gut möglich, dass der Franzose, könnte man ihn ins Heute beamen, auch das geißeln würde, was im 21. Jahrhundert als State of the Art gilt. Zwar müsste ihm dessen Gerätschaften nachgerade außerirdisch erscheinen. Sie werfen jedoch ein Problem auf, dem Mutter Natur abermals überlegen ist. Während ihre Produkte verrotten, kann Unrat der Plastikära langzeitig Landschaften verschandeln.

Für Umweltschützer ist daher klar: Plastik ist böse. Und besonders böse – lehrt derzeit eine Debatte – ist das Plastiksackerl. 350 Millionen langlebige Exemplare gehen nach Meinung von Global 2000 jährlich an Österreichs Konsumenten. Während Italien die billigen Behältnisse verboten hat, schwebt vielen hierzulande nun Ähnliches vor. Ein Plan, der jedoch weder mir nichts, dir nichts umsetzbar ist, noch die Welt retten könnte. Denn erstens schlägt er sich mit EU-Recht: Das erlaubt Verpackungen, die sich thermisch verwerten lassen (also Energieerzeugung per Verbrennung) oder stofflich. Und zweitens: Die Sackerl-Debatte kratzt nur an der Oberfläche. Denn Plastik steckt überall. Und es hat der Menschheit nicht nur geschadet.

Ziegenkäse als Plastik-Urahn#

Aber was heißt eigentlich "Plastik"? Nichts anderes als "Kunststoff": ein Stoff aus langen Molekülen. Erzeugt werden sie synthetisch, also durch Zusammenstellung von Einzelelementen. Hört sich vielleicht langweilig an, hat für den Laien aber ein interessantes Ergebnis: ein erfreulich geschmeidiges nämlich, im Gegensatz zu spröden Naturstoffen. Schon aus dem 16. Jahrhundert ist ein Rezept überliefert: Ein Benediktinerpater beschrieb eine Prozedur, durch die sich ein beliebig verformbares Material machen ließ – aus Ziegenkäse. Sozusagen ein Urahn des Plastik.

Die heutigen Hersteller mögen den Ausdruck "Plastik" übrigens gar nicht. Die sagen lieber "Kunststoff". Das klingt auch viel eher nach einem Sammelbegriff. Und zweitens schwingt da eine schöne Assoziation mit: zur Kunst. Die wiederum verdankt ihr Prestige nicht zuletzt der Sichtweise, dass Kunstwerke eigenständige Schöpfungen sind. Doch da gibt es noch eine zweite Sichtweise. Kunst: Das sei die (mehr oder minder) geglückte Imitation von Natur. Durchaus interessant: Auch der Kunststoff erfuhr, im Lauf der Jahre, beide Betrachtungsweisen.

Wobei man anfangs nach Naturersatz gierte. Drastisches Beispiel: Weil die US-Amerikaner im 19. Jahrhundert Billard-versessen waren, drohte der Rohstoff Elfenbein zu schwinden (und damit die Spezies Elefant). Ein Kugelproduzent zettelte ein Gewinnspiel an: Wer einen Ersatzstoff findet, soll 10.000 Dollar erhalten. John Wesley Hyatt erfand 1868 Zelluloid – und so auch eine Grundlage der Filmindustrie. Doch auch, weil sich dieses Zelluloid in Farben herstellen ließ, die die Natur nicht kannte, kam es über den Rang eines Substituts hinaus. Heute erfreuen sich solche Originale sogar musealen Interesses: Das Deutsche Kunststoff Museum in Düsseldorf – rund 12.000 Objekte hat es – lässt auf seiner Homepage auch eine farbige Zelluloidtasche aus der Zeit um 1940 glänzen.

Grellbunte neue Welt#

Manche Kunststoffe erfüllten freilich zuvorderst einen praktischen Zweck. Wie etwa das Bakelit. Das war sozusagen der Trittbrettfahrer, als die Elektro-Industrie ihren kometenhaften Aufstieg begann, denn das Material eignete sich blendend zur Isolation. Nichtsdestoweniger sind Bakelitradios und -telefone heute Kultobjekte.

Das grelle Inventar der 60er und frühen 70er hat sich jedoch deutlich tiefer ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Für heutige Gemüter verstörend schrill, verströmte es den Aufbruchsgeist einer – auch dem psychedelischen Rausch zugetanen – Generation. Wer jenseits der Eltern eine neue Welt bauen wollte, fing in den eigenen vier Wänden an – und strafte das altvaterische Holz mit Verachtung. 1968 entwarf der Finne Matti Suuronen gar ein eiförmiges Polyesterhaus auf Stelzen. Wie viel UFO-Sichtungen es zeitigte, ist nicht überliefert, wohl aber der Name: "Futuro".

Doch auch der konservative Haushalt hatte seinen Nutzen, Stichwort Tupperware: Seit die Firma in den frühen 50ern private Verkaufspartys steigen ließ, stieg auch der Erlös. Hauptverantwortlich für die Partys: Verkaufsdirektorin Brownie Wise. Als erste Frau brachte sie es auf die Titelseite der "Business Week".

Dabei begleitete Kunststoff bereits den massiven Eintritt der Frau in die Arbeitswelt, der in der Zwischenkriegszeit begann. Opulente Jugendstilkleider waren da eher unpraktisch, kürzere Röcke das Mittel der Wahl. Und weil Baumwollstrümpfe dazu nicht gut aussahen und Seide teuer war, begleitete der Nylonstrumpf den weiblichen Aufstieg. Allerdings: Ewig sollte die Allianz zwischen Plastik und Fortschrittsglaube nicht halten. 1973 erschütterte der Ölschock die Liebe zum bunten Mobiliar. Das schwarze Gold ist auch für Plastik nötig: Fünf Prozent der Fördermenge fließen in seine Produktion. Und als sich die Unverwüstlichkeit des Materials nach und nach als naturverschmutzend erwies, griff der Umweltschutzgedanke um sich: Jute statt Plastik!

"Wer 1980 einen Schrank oder Tisch aus Holz kaufen will, wird als Snob gelten", wagte das "Hamburger Abendblatt" 1971 zu prognostizieren. Es irrte bitterlich.

Das Übel Künstlichkeit#

Die 80er sahen den Kunststoff mit scheelem Blick. Da konnte es allenfalls als Spleen durchgehen, dass Opernnarr Marcel Prawy seine Habe in Plastiksackerln bunkerte. Die Tasche, politisch unkorrekt als "Tschuschenkoffer" gescholten, galt als billig. Und Plastik als Sinnbild für industrielle Künstlichkeit. "I’m a Barbie girl, in a Barbie world, it’s fantastic, made of plastic", trällerte ein Dancefloor-Hit 1997: Dumpfe Koketterie mit einer servilen Traumfrau.

Wer jedoch meint, das Plastik hätte an Terrain verloren, irrt. Trotz Ökobewegung wurde Mitte der 80er erstmals mehr Kunststoff produziert als Eisen und Stahl. Das Material trat nur dezenter auf: Plastikgehäuse wurden grau, tarnten sich nun als Metall. Und Kunststoff ist, kraft seiner Qualitäten, auch heute allerorts. Sauberes Trinkwasser, haltbare Lebensmittel, medizinische Errungenschaften: Ein Leben ohne Kunststoff wäre ein Atavismus. Nur ein Leben mit den Abfallprodukten fällt schwer.

"Einerseits will man heute, dass Produkte lange halten. Sobald wir sie aber nicht mehr brauchen, sollen sie sich in Luft auflösen", sagt Uta Scholten, Kuratorin des Kunststoff Museums: ein "schizophrener" Zug der Zeit. Um die Müll-Malaise in den Griff zu bekommen, könne man jedoch versuchen, nach dem "Cradle to Cradle"-Modell zu arbeiten. Das Konzept des deutschen Chemikers Michael Braungart und US-Architekten William McDonough sieht eine ewige Zirkulation vor ("Von der Wiege zur Wiege"): Produktbestandteile sollen demnach so konzipiert sein, dass sie nach Beendigung einer Lebensphase nicht mühevoll entsorgt, sondern rasch weiterverwertet werden können. Das Problem: Dass auch kleinste Rädchen der Industrie mitspielen müssten, um global so einen quasi-natürlicher Kreislauf zu realisieren.

Sollte er eines Tages doch entstehen, müsste auch ein Montaigne den Hut ziehen: Der "großen und mächtigen Mutter Natur" wäre man ein Stück näher. "Einerseits will man heute, dass Produkte lange halten. Sobald wir sie aber nicht mehr brauchen, sollen sie sich in Luft auflösen."


Wissen: "Plastic Planet"#

Von

Eva Stanzl


"Vieles ist ohne Plastik nicht möglich. Etwa gäbe es keine Medizintechnik ohne Geräte aus Kunststoff, oder keine Computer. Aber die im Kunststoff enthaltenen Schadstoffe gelangen ins Blut. Das ist das Plastik-Dilemma", betont Werner Boote, Regisseur der Films "Plastic Planet".

Boote hat mit seiner Doku im Herbst 2009 Plastik in das kollektive Bewusstsein gerufen. Zehn Jahre lang hatte der Wiener Filmemacher verfolgt, dass der Kunststoff auch überall dort landet, wo er nicht hin soll: in den Ozeanen, in den Alpen, im menschlichen Körper, in den Mägen von Fischen und somit in der Nahrungskette.

Die in vielen Kunststoffprodukten enthaltene Chemikalie Bisphenol A gilt als krebserregend und soll Unfruchtbarkeit verursachen. "Die Substanz hemmt die Hormon-Produktion und wirkt über drei Generationen", sagt Boote zur "Wiener Zeitung". Heute gebe es so viel Plastik auf der Welt wie Plankton, und die Plastik-Industrie setze 900 Milliarden Euro im Jahr um, ohne jedoch auf die Gefahren ihrer Produkte hinzuweisen.

Wiener Zeitung, Samstag, 19. Februar 2011


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